«Andere Meinungen sind spannend!»
Ulrich Martin Drescher im Gespräch mit Bernward Janzing
Der scheidende EWS-Aufsichtsrat Ulrich Martin Drescher über konstruktives Rebellentum, Perspektivwechsel und Freiburg als Mekka der Ökopioniere
Nach elf Jahren zieht sich Ulrich Martin Drescher zum Jahresende aus dem Aufsichtsrat der EWS-Genossenschaft zurück. «Man muss aufhören, wenn es am schönsten ist», sagt der 68-Jährige, schildert die Stationen seines Lebens, die Zusammenhänge zwischen Rebellion und Veränderung – und erzählt von seiner Wahlheimat Freiburg im Breisgau.
Speziell dort, in Südbaden, hat Drescher in den vergangenen Jahrzehnten viel in Sachen ökologisches Unternehmertum bewegen können – als Strippenzieher, Vernetzer, als Wandler zwischen den Welten des Liberalismus und der Ökologie. Nach dem Fototermin im Sternwald hat der Organisationsberater und Moderationsexperte in den Kreativpark «Lokhalle Freiburg» zum Interview geladen, in die Räume des ökologisch orientierten Gründerzentrums «Grünhof» – auch das ist eines seiner Projekte.
Herr Drescher, erinnern Sie sich noch an Ihren ersten persönlichen Kontakt mit den Schönauer Stromrebellen?
Oh ja, das war in der Turnhalle im Schulzentrum von Kirchzarten im Jahr 1990. Dort fand eine Art Ökomesse statt, und da stand Michael Sladek an einem Sonntag am Stand und verteilte Blättchen der «Netzkauf» [Die Netzkauf GbR kämpfte damals als Vorgängerin der EWS für die Übernahme des lokalen Stromnetzes und für eine atomstromfreie Energieversorgung, Anm. d. Red.]. Das fand ich spannend. Ich war 15 Jahre zuvor bei den Protesten gegen das geplante Atomkraftwerk Wyhl dabei gewesen, ich war natürlich gegen Atomkraft – aber damals weniger aus ökologischer Sicht, sondern wegen der damit verbundenen Kapital- und Machtkonzentration. Auch aus dieser Perspektive war mir Netzkauf als Unternehmen in Bürgerhand sofort sehr sympathisch. Also wurde ich Gesellschafter der Netzkauf, aus der später die EWS wurden. Ich saß dann auch in ihrem Beirat – und mit der Genossenschaftsgründung wurde ich dort Aufsichtsrat.
Das Freiburger Gründerzentrum Grünhof stellt Sie auf seiner Internetseite als jemanden vor, der «Hinz und Kunz» kennt und dem «keine Idee zu groß ist, um gedacht und visioniert zu werden». Erzählen Sie ein wenig aus Ihrer Biografie.
Ich habe das Jahr 1968 als Jugendlicher in Frankfurt erlebt, die Proteste, das ganze 68er-Leben, Janis Joplin bei ihrem einzigen Konzert in Deutschland. Später machte ich eine Lehre als Bankkaufmann bei der Deutschen Bank, danach stand ich auch auf dem Börsenparkett – das waren schon zwei sehr unterschiedliche Welten. Zum Studium kam ich nach Freiburg; Wyhl war dann nach 1968 meine zweite Protestsozialisation.
Der Banker auf dem Bauplatz, eine spannende Konstellation.
Mich haben schon immer die unterschiedlichen Sichtweisen fasziniert – und die konstruktiven Fortschritte, die man daraus generieren kann. Ich war während des Studiums für den Liberalen Hochschulverband im AStA der Universität aktiv, leitete bei der Friedrich-Naumann-Stiftung Kurse in politischer Moderation. So kam ich für eine Ausbildung zur Unternehmensberatung «Metaplan», für die ich dann nach einer Weile auch als Moderator gearbeitet habe. Später machte ich mich als «Unternehmensberater selbständig, coachte die unterschiedlichsten Gruppen, von Firmenvorständen bis zu Fließbandarbeitern. So kam ich beruflich in viele Firmen, stellte ein, zwei Tage lang Fragen und zog dann weiter.
Ihr heutiges Netzwerk ist riesig, wie haben Sie das aufgebaut?
Wichtig war dabei der Verband «UnternehmensGrün», den ich 1992 in Stuttgart mitbegründet habe, zusammen mit Fritz Kuhn, Rezzo Schlauch und anderen. Dadurch kam ich dann zu den «Kempfenhausener Gesprächen» am Starnberger See. Veranstalter war über Jahre hinweg unter anderem die HypoVereinsbank. Diese Veranstaltungsreihen waren ein einzigartiger Nukleus, aus dem viele Kontakte und Ideen resultierten. Unter anderem konnte ich so die HypoVereinsbank und die «Solar-Fabrik» zusammenbringen – die Bank stieg ja dann auch bei der Solar-Fabrik ein.
Wie kam Ihr Kontakt zu Georg Salvamoser zustande, dem Gründer der Freiburger Solar-Fabrik?
Das lief tatsächlich über Stuttgart. Salvamoser hatte von UnternehmensGrün gehört, rief dann in der Zentrale an und fragte: «Habt ihr auch jemanden im Raum Freiburg?» So lernte ich ihn kennen. Salvamoser wollte eine Modulfertigung aufbauen und suchte dafür Unterstützer. Acht Millionen Mark musste er für das Projekt zusammenbekommen. Da entgegnete ich Salvamoser: «Sie wollen keine Module verkaufen, sondern eine Anmutung.» Ich sagte: «Sie verkaufen ein ‹Freiburg-Gefühl›», nämlich das Gefühl, bei einer großen Sache mit dabei zu sein. Freiburg mit seinem Wein, dem Fußball, dem Münster und der Sonne – und eben auch der Solarenergie. In einer Woche waren die acht Millionen von Privatanlegern zusammen.
Sie waren früher in der FDP, sind heute bei den Grünen. Was war der Anlass für Ihren Wechsel?
Ich bin 1982 bei der FDP ausgetreten, als sie sich von Helmut Schmidt ab- und Helmut Kohl zuwandte. Dann sagten die Grünen: «Komm doch zu uns!» In den 80er-Jahren gab es bei den Grünen in Baden-Württemberg den Flügel der Ökolibertären, ich zähle mich zu dieser Richtung – denn Freiheit ist mein Lebensmotto. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass ich aus einem ultrakatholischen Elternhaus komme, wo man stark in Rituale eingezwängt war.
Ist es unausweichlich, dass man mit einem solchen Freiheitsdrang irgendwann in der beruflichen Selbstständigkeit landet?
Angestellter zu sein wäre eine Zeit lang gutgegangen, aber auf Dauer vermutlich nicht. Ich bin ein Unternehmertyp, will Neues ausprobieren. Da ist die Selbstständigkeit natürlich ideal. Aber dafür braucht man auch eine gewisse berufliche Stabilität, man muss auch Widerspruch aushalten können.
Was schmerzt Sie heute mehr: dass Liberale oft das Thema Ökologie vernachlässigen oder dass manche Grüne sich schwer tun mit freiheitlichen Themen – etwa solchen der Marktwirtschaft?
Schon eher letzteres. Bei mir steht Freiheit wie gesagt ganz oben. Aber eben eingebettet in eine gesellschaftliche Verantwortung. Wirtschafte so, dass deine Wirtschaftsweise ein Vorbild für deine Nachkommen ist – das ist mein Thema. Und ich bin heute bei den Grünen aktiv, weil ich eher die Hoffnung habe, den Grünen das Liberale noch stärker nahebringen zu können als den Liberalen das Grüne.
Sie sind ein Freund der Widersprüche?
Ja, mich interessierten immer die Gegensätze, die Konflikte und dann die passenden Lösungsstrategien. Deswegen war ich beruflich immer in diesem Bereich tätig. Joschka Fischer hat einmal gesagt: «Himmel und Hölle sind uninteressant, interessant ist es im Fegefeuer.» Das sehe ich ähnlich.
Sie haben mal verlauten lassen: «Meine Oberflächlichkeit ist meine Stärke.» Wie ist das zu verstehen?
Es gilt immer das «Paretoprinzip», das ja besagt, dass man 80 Prozent der Wirkung mit 20 Prozent des möglichen Einsatzes erreichen kann. Wenn ich ein Ziel mit vertretbarem Aufwand zu einem Großteil umsetzen kann, ist es effizienter, mich damit zufrieden zu geben und anschließend ein neues Ziel anzugehen, als mit überproportionalem Aufwand die 100 Prozent anstreben zu wollen. Außerdem denke ich in Zeiträumen, nicht in Zeitpunkten. Wenn ein Ziel noch nicht ganz erreicht ist, kann man es ja später nochmal angehen.
Hilft diese Sichtweise auch, Dinge weniger verbissen zu sehen?
Auf jeden Fall. Die Verbissenheit im gesellschaftlichen Diskurs ist lähmend. Zugleich nimmt die Bereitschaft ab, sich in andere Leute hineinzudenken. Für mich ist Platons Höhlengleichnis eine zentrale Quelle der Weltsicht: Wir sehen immer nur die Schatten, nämlich eine Interpretation der Realität, nicht die Realität selbst. Das muss man sich immer vor Augen halten.
Entsprechend lautet einer Ihrer Grundsätze: «Es gibt verschiedene Realitäten.» Im Internet, wo Gegenpositionen oft unerbittlich bekämpft werden, scheinen das viele anders zu sehen …
Für mich unverständlich. Andere Meinungen sind spannend! Ein aktuelles Beispiel: Bei uns gab es kürzlich eine dieser Corona-Leugner-Demos. Ich fand das interessant zu hören, was da für ein Stuss erzählt wurde. Denn das treibt mich in die Analyse: Was geht in den Leuten vor, die so etwas sagen und glauben? Wie kommen die dazu? Was ist deren Sozialisation, was machen die beruflich? Ist doch viel spannender, als sich über jeden schrägen Satz eines Redners zu erregen. Weil ich da vielleicht etwas freier denke. Deswegen kann ich gut mit Gegenpositionen umgehen. Aber das war ja auch immer mein Beruf, ich habe 42 Jahre lang unterschiedlichste Menschen auf der Suche nach Lösungen moderiert. Mein Ziel ist immer, dass in einer Diskussion jeder seine Realität vorbringt, jeder aber auch die Sicht des anderen zu verstehen versucht – auch wenn er sie nicht teilt.
Klingt nach der berühmten «badischen Lösung», einer pragmatischen, oft wundersamen Auflösung eines Konfliktes. Und wenn wir schon bei den badischen Mentalitäten sind: Sie haben mal gesagt: «Rebellisch sein ist mir wichtig.»
Baden war schon immer speziell, das stimmt. Die Badische Revolution 1848/49, die Salpeterer-Unruhen im Hotzenwald, das war echte Rebellion. Prägend für die Region war aber auch die weltoffene Sichtweise im Dreiländereck, dann die schwierige Topografie des Schwarzwalds, die den Menschen Kreativität abverlangte. Daraus resultierte eine stets hinterfragende, aber zugleich innovations- wie auch lebensfreundliche Stimmung.
Sie unterscheiden konstruktives und destruktives Rebellentum?
Auf jeden Fall. Es gibt überall Menschen, die rebellieren. Aber in Baden waren sie oft sehr konstruktiv. Sie münzten die Proteste gegen Obrigkeiten und herrschende Strukturen um in etwas Neues. Das war in Wyhl so, wo aus dem Widerstand gegen das Atomkraftwerk das Öko-Institut und große Ökomessen hervorgingen. Das war in Schönau so, und das ist aktuell bei der «Regionalwert AG» der Fall, die sich nicht mit dem Niedergang der Landwirtschaft abfinden will und daher nun neue Agrarstrukturen schafft. Das ist einfach toll zu sehen, wie jetzt Betriebe unter dem Dach der AG hochwertige Lebensmittel produzieren.
Ist es also kein Zufall, dass solche Bewegungen, die in den EWS oder auch in der Regionalwert AG mündeten, ausgerechnet in Südbaden entstanden sind?
Nein, das hat schon einen historischen Kontext. Aber für die heutige Identität der Region war vor allem Wyhl prägend. Nachdem dort die konservative Landbevölkerung protestierte und sich schließlich die jungen Leute aus Freiburg anschlossen, hinterließ der erfolgreiche Widerstand eine sehr selbstbewusste Umweltszene. Manche Leute glauben, Freiburg wurde zur Solarstadt, weil hier oft die Sonne scheint. Nein, sie wurde es wegen Wyhl!
Auch Georg Salvamoser wollte mit seiner Solar-Fabrik nur nach Freiburg?
Ja, hier war der Grundhumus, den er brauchte. Salvamoser hat sogar unglaublich hohe Subventionen in Nordrhein-Westfalen und in Mecklenburg-Vorpommern ausgeschlagen. Er wusste, er braucht dieses Freiburger Umfeld. Und nebenbei: Die besondere Lebensart zieht sich ja hier durch alle Bereiche. Oder gibt es – außer beim SC Freiburg – in der Fußballbundesliga Trainer, die auch mal gesellschaftliche Analysen machen? Ich kenne keine.
Da ist jemand wie Sie, der die Fäden zieht und Kontakte vermittelt, natürlich am rechten Fleck. Zufall oder Notwendigkeit, dass Sie hier hängengeblieben sind?
Schwer zu sagen, wie es ausgesehen hätte, wenn ich anderswo gelandet wäre. Dass ich nach Freiburg kam, war ja tatsächlich Zufall, ich bin zum Studium hierher, weil ich über Kontakte ein Zimmer hatte. Aber klar, für mich war und ist das ein tolles Umfeld. Aus meiner Sicht kommen die fünf größten Ökopioniere in Deutschland alle aus dem Raum Freiburg. Neben dem Ehepaar Sladek als EWS-Gründer waren das Georg Salvamoser mit seiner Solar-Fabrik, der Solararchitekt Rolf Disch, Christian Hiß von der Regionalwert AG und Leo Pröstler. Pröstler mit seinem «Waschbär»-Umweltversand wird immer unterschätzt, aber er hat etwas ganz Entscheidendes geschafft: Er hat mit seiner Ökoputzkiste das Thema Nachhaltigkeit für den Haushalt etabliert.
Welchen Misserfolg in diesem Umfeld haben Sie am meisten bedauert?
Das war «Energie in Bürgerhand». Die Genossenschaft hatte vor gut zehn Jahren das Ziel, Anteile am Energieversorger Thüga zu erwerben, als E.ON die Thüga aus Kartellgründen abstoßen musste. Ziel der Bürgerinnen und Bürger war es, den Konzern auf eine ökologische Energieversorgung umzustellen. Wir hatten acht Millionen Euro auf dem Konto, weitere 20 Millionen an Zusagen. Aber die Thüga wollte uns keine Stimmrechte geben, sondern uns stattdessen mit Genussscheinen abspeisen. Damit stimmte dann das Geschäftsmodell nicht mehr. Deswegen war es folgerichtig, das Geld wieder an die Bürger zurückzuzahlen. Denn es hatte sich gezeigt, dass man systemisch nicht zusammenpasst – hier eine Thüga, die fast wie ein Beamtenapparat funktionierte, dort eine rebellische Gruppe rund um die EWS.
Ihr neuestes Unternehmen sitzt ein Stockwerk über dem Raum, in dem wir gerade sprechen: die Firma «WEtell». Was hat es damit auf sich?
Das ist ein Unternehmen, das Mobilfunk als nachhaltige Dienstleistung anbietet: hohe Datensicherheit, Transparenz und vollständige Versorgung mit Ökoenergie. Auch die ökologische Suchmaschine «Ecosia» ist mit an Bord. Ich habe in dieses Start-up investiert, sitze dort auch im Beirat. WEtell ist für mich besonders spannend, weil ich zum ersten Mal eine Firma ganz von Anfang an begleite, bis sie hoffentlich erfolgreich im Markt etabliert ist. Und wir lernen voneinander: ich von den jungen Leuten im Unternehmen, und die genauso von mir.
Und dennoch lockt Sie der Weg in die große Politik?
Ich war schon 2017 Bundestagskandidat der Grünen im Wahlkreis Waldshut. Nun bewerbe ich mich erneut um die Kandidatur – und hoffe, den Vorteil, kein Berufspolitiker zu sein, noch stärker ausspielen zu können.
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«Nicht nachgeben!»
Klimapionier, EWS-Gründungshelfer, Streiter für eine soziale Energiewende: Hartmut Graßl bleibt weiterhin kämpferisch – und zuversichtlich.
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Die weltbeste Energiemarke
Mit ihrem Markenauftritt setzen die EWS neue Standards in der Energiebranche und werden bei den «Charge Awards» als «Best Green Brand» ausgezeichnet.