«Eine Trendwende ist in Sicht»
Pao-Yu Oei im Gespräch mit Sophie Schmalz
Der Wirtschaftsingenieur Pao-Yu Oei erkundet Strategien für einen globalen Kohleausstieg. Sein Fazit: Es könnte funktionieren – wenn viele Länder mitziehen.
Kein Ende der Klimakrise ohne Kohleausstieg: Wenn die Welt in den nächsten Jahrzehnten nicht aufhört, Kohle zu verstromen, heizt sich das Klima weiter auf – mit dramatischen Folgen. Dennoch werden knapp 40 Prozent des weltweiten Stroms weiterhin mit Kohle erzeugt. Global wird sogar kräftig in die CO2-intensiven Kraftwerke investiert, denn der Energiehunger vieler Länder wird weiter wachsen. Auch wenn die Corona-Krise aktuell für eine geringere Energienachfrage sorgt, werden die Emissionen wohl bestenfalls kurzfristig sinken.
Grund zur Hoffnung gebe es trotzdem, sagt Pao-Yu Oei, als wir ihn Anfang März 2020 in der Technischen Universität Berlin zum Interview treffen. «In einzelnen Weltregionen ist eine Trendwende in Sicht», so Oei. Anderen Ländern solle hingegen ein längerer Zeitraum zur Umstellung eingeräumt werden.
Der Kohleausstieg – und wie er gelingen kann – ist Oeis Forschungs- und Herzensthema. «Technisch ist es verhältnismäßig einfach, die Energiewende umzusetzen. Das können wir alles mit Zahlen belegen», berichtet uns der Wirtschaftsingenieur. Mit seiner TU-Forschungsgruppe «CoalExit» untersucht Oei ausgehend von Deutschland Kohleländer wie China, Indien und Südafrika sowie internationale Rohstoffmärkte.
Herr Oei, weltweit werden knapp 40 Prozent des Stroms mit Kohle erzeugt. Wie passt das mit dem Klimaschutz zusammen?
Wenn wir das mit der Kohle nicht in den Griff bekommen, haben wir keine Chance, die in Paris vereinbarten Klimaschutzziele zu erreichen. Es gibt ein bestimmtes Restbudget, wie viele Emissionen weltweit noch ausgestoßen werden dürfen, um die globale Erwärmung auf zwei Grad Celsius, wenn möglich eineinhalb Grad zu begrenzen. Kohle, der CO2-intensivste Energieträger der Welt, muss dafür möglichst schnell auf null gefahren werden.
Bis wann muss der weltweite Kohleausstieg erfolgt sein?
Es gibt diverse Berechnungen, die zeigen, dass alle Länder mit hohem Einkommen – vereinfachend Nordamerika, Europa, Japan und Australien – bis spätestens 2030 aus der Kohle raus müssen. Für die restlichen Länder würde es genügen, wenn sie bis 2050 aus der Kohle aussteigen. So haben ärmere Länder mehr Zeit – und es wird berücksichtigt, dass reichere Länder in der Vergangenheit, während der Industrialisierung, bereits viel mehr Emissionen ausgestoßen haben. Das heißt allerdings auch, dass global einiges an Bergbau-, Transport- und Kraftwerksinfrastruktur deutlich früher als geplant geschlossen und umgebaut werden muss.
Wie soll das klappen? Seit Anfang der 1990er-Jahre hat sich die weltweite Kohleproduktion fast verdoppelt.
Es gibt kein einheitliches Bild für Kohle, die Nachfrage entwickelt sich weltweit sehr unterschiedlich. Die globale Nachfrage insgesamt ist im Vergleich zu 2010 stark gestiegen. Gleichzeitig beobachten wir in den letzten fünf Jahren aber ein Plateau des Weltbedarfs. Wir hoffen, dass der Gesamtverbrauch in den kommenden zehn Jahren absinken wird – in einzelnen Weltregionen ist eine Trendwende in Sicht.
Es gilt also, lieber Zusammenhänge aufzudröseln, anstatt Durchschnittszahlen zu betrachten, um Entwicklungen zu verstehen und die Zukunft zu erforschen?
Absolut.
Und dann sieht die Welt gar nicht mehr so schlecht aus?
(lacht) Nein. Dann gibt es Grund zur Hoffnung.
Schießen Sie los!
In Europa und Nordamerika geht die Nachfrage nach Kohle in den letzten Jahren stark zurück, weil die Kraftwerke den Wettbewerb gegen günstigere Energieträger, wie Erneuerbare und Erdgas, verlieren. Das liegt auch an einer höheren CO2-Bepreisung und weiteren Auflagen. In einigen südostasiatischen Ländern wie Thailand, Indonesien und Indien werden hingegen viele neue Kohlekraftwerke gebaut. Auch in einigen Ländern in Afrika und Südamerika, deren Stromnachfrage stark ansteigt, wird über die Kohlenutzung diskutiert. Dort wird mehr Strom benötigt, weil Regionen elektrifiziert werden, die vorher elektrisch nicht erschlossen waren, oder weil Wirtschaft und Bevölkerung wachsen. Viele Länder kopieren die frühere Entwicklung in Europa – und decken die steigende Energienachfrage durch Kohle.
Tortendiagramm: Strommix 2018 global in Prozent und Terawattstunden, TWh:
Kohle: 10123 TWh, 38 %,
Erdgas: 6188, TWh, 23,23 %,
Wasserkraft: 4203 TWh, 15,78 %,
Atomkraft: 2718 TWh, 10,2 %,
Wind- und Solarenergie: 1857 TWh, 6,97 %,
Öl: 808, TWh, 3,03 %,
Andere Erneuerbare: 739 TWh, 2,77 %.
Und China? Immerhin produziert und verbraucht das Land weltweit mit Abstand am meisten Kohle.
In China lässt sich ein Trend hin zu einer konstanten und anschließend sogar abnehmenden Nachfrage nach Kohle erstmals erahnen. In der Bevölkerung sinkt die Akzeptanz für Kohle, vor allem wegen des Smogs. Im urbanen Raum wurden gezielt alte Kraftwerke geschlossen. Allerdings hat man dafür im ländlichen Raum einige neue ans Netz gebracht. Aber klar, wenn China und Indien in der Klimapolitik nicht umschwenken, verfehlen wir alle Klimaschutzziele. Ich bin sicher, dass sie ihre Politik nur ändern werden, wenn Länder in Europa und Nordamerika vorweggehen, da diese Länder in der Vergangenheit bereits viel mehr emittiert haben.
In Großbritannien soll die Kohle schon 2025 auf null gefahren werden – warum klappt das dort?
Weil es dort nicht mehr so viele Beschäftigte gibt, die an der Kohle hängen. Großbritannien erzeugte 2012 noch 40 Prozent des Stroms mit Kohle, 2019 waren es zwei Prozent. Fast die gesamte Kohle wird seit Jahren importiert. Das war nicht immer so: In den 1950er-Jahren gab es noch über eine halbe Million Beschäftigte im Kohlebergbau. Die Minen wurden jedoch aufgrund der Globalisierung unrentabel. Margaret Thatcher, die damalige Premierministerin, entschied in den 1980er-Jahren groß angelegte Minenschließungen und den Abbau von Kohlesubventionen. Die aktuellen Diskussionen um den Kohleausstieg drehen sich daher nicht um Strukturwandel, Wählerstimmen oder Gewerkschaften. Das macht es politisch einfacher. Man muss sich nur mit den technischen Aspekten der Energiewende beschäftigen. Dass der Ausstieg technisch verhältnismäßig einfach ist, sehen wir auch an der Ankündigung von Premierminister Boris Johnson, das ursprüngliche Ausstiegsjahr von 2025 auf 2024 vorzuziehen.
Wann müsste Deutschland aus der Kohle raus?
Klimapolitisch wäre es notwendig, dass Deutschland bis 2030 aus der Kohle aussteigt. Ein späteres Enddatum ist besser als keins, denn wenn das reiche Deutschland den Kohleausstieg nicht hinbekommt oder es dabei zu viele Verlierer gibt, wäre das ein fatales Signal, das international Auswirkungen hätte.
Sie und Ihr Team nehmen die großen weltweiten Kohleakteure unter die Lupe. Mit welchem Fokus?
Neben einzelnen Ländern untersuchen wir auch die internationalen Handelsströme fossiler Ressourcen. Steinkohle wird global gehandelt; somit haben die Entwicklungen der größten Akteure China und Indien automatisch Auswirkungen auf globale Rohstoffpreise und beeinflussen das Geschehen in vielen Ländern. Der steigende Druck auf den Steinkohlemarkt ist inzwischen auch in der Finanzwelt sichtbar. Die Weltbank und die Afrikanische Entwicklungsbank entschieden sich in den letzten Monaten mehrfach dagegen, Kohleprojekte weiter zu fördern – nicht, weil ihnen plötzlich Klimaschutz wichtig geworden ist, sondern weil diese Bereiche ökonomisch nicht mehr zukunftsfähig sind.
Auch zu Südafrika forschen Sie intensiv. Wieso?
Südafrika ist natürlich kein so großer Player wie China oder Indien. Es ist aber das Land, das weltweit am stärksten von der Kohle abhängig ist – und zudem ist es eines der Länder, in denen weltweit die höchsten Ungleichheiten herrschen. Das betrifft ökonomische, aber auch soziale Ungleichheiten, wie den Zugang zu Bildung und Gesundheit. Dieser Umstand erschwert einen sozialverträglichen Kohleausstieg ungemein. Die Bedeutung der Kohle resultiert daraus, dass ungefähr 90 Prozent der gesamten Stromerzeugung aus Kohle erfolgen. Zudem dient der Export von Kohle als wichtige Einnahmequelle. Daher lassen sich an diesem Land wesentliche Konfliktlinien der notwendigen Transformation gut untersuchen.
Welche Rolle spielen solche gesellschaftlichen Aspekte bei Ihrem Forschungsansatz?
Eine zunehmende. Mein Promotionsthema war noch eher wirtschaftlich ausgerichtet. Ich untersuchte den Umstieg von den fossilen Energieträgern Kohle, Erdgas und Erdöl hin zu 100 Prozent Erneuerbaren in Europa. Dabei ging es um Strommärkte, Energieeffizienz oder die Wirksamkeit von CO2-Preisen. Daraus habe ich gelernt, dass es aus technischer Perspektive verhältnismäßig einfach ist, die Energiewende umzusetzen. Das können wir alles mit Zahlen belegen. Doch damit konnte ich nicht erklären, warum andere politische Entscheidungen getroffen werden. Warum sich Politik und Wirtschaft gegen kostengünstigere Pfade – und sich beispielsweise für ein Festhalten an der Kohleverstromung – entscheiden. Also fing ich nach und nach an, mich auch für politische und gesellschaftliche Fragestellungen zu interessieren.
Und haben Sie herausgefunden, warum die Politik häufig ökonomisch sinnvolle Erkenntnisse der Energiewende verschmäht?
(lacht) Wir sind dran. Dazu untersuchen wir politische und ökonomische Machtkonstellationen und Beharrungskräfte. Ein Kohleausstieg führt zu Verteilungseffekten. Niemand will freiwillig etwas abgeben. Die Kohlewirtschaft ist zudem meist zentral organisiert und steht im engen Austausch mit politischen Entscheidungsträgern. Der Staat ist teilweise direkt mit der Kohle verflochten. Schauen wir uns beispielsweise Südafrika an: Die Erträge fließen dort in wenige Taschen. Es gibt keinen freien Strommarkt, der staatliche Energieversorger ist ein Monopolunternehmen. Der Konzern selber ist eigentlich seit Jahren insolvent. Es gibt wöchentlich Stromausfälle, die vor allem arme Bevölkerungsgruppen treffen. Ein Ausbau der Erneuerbaren böte hier die Chance, bestehende Ungleichheiten zu verringern.
Und welche Interessen stehen dem in Südafrika entgegen?
Einige Akteure – wie auch unsere Bundesregierung – versuchen, Südafrika zum Einstieg in die Gastechnologie zu bewegen. Deutsche Firmen erhoffen sich Gewinne durch den Verkauf von Kraftwerkstechnologien. Erdgas scheint für kurzfristige Strategien eine mögliche Brückentechnologie zu sein. Aber das ist ein Trugschluss. Hätte die Politik vor zehn Jahren auf die Klimawissenschaft gehört, wäre die Lage eine andere. Jetzt haben wir keine Zeit mehr für so eine Brücke – sie würde in eine Klimakatastrophe führen.
CoalExit und Coal Transitions
Die Forschungsgruppe «CoalExit», die Pao-Yu Oei an der TU Berlin leitet, arbeitet mit dem internationalen Netzwerk «Coal Transitions» zusammen, das den Übergang von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energiequellen untersucht. Ein Forschungsergebnis lautet: «Es sind keine Brückentechnologien wie Erdgas oder CO2-Speicherung (CCS) mehr notwendig, stattdessen sind weltweit 100 Prozent Erneuerbare möglich.»
Zur Klimakrise kommt jetzt noch eine globale Pandemie. Der Ölpreis ist abgestürzt. Kohle wurde zum teuersten fossilen Energieträger. Was bedeutet die Corona-Krise für die internationalen Rohstoffmärkte?
Es gibt aktuell kaum einen Bereich, der nicht vom Coronavirus beeinflusst wird. Die globale Rezession reduziert auch die Energienachfrage, das wird die Emissionen zumindest kurzfristig senken. Gleichzeitig führt das aber auch zu geringeren Rohstoffpreisen auf dem Weltmarkt, dadurch steigen Nachfrage und Emissionen mittelfristig wieder an. Der größte Treiber des Preissturzes ist allerdings gar nicht die Corona-Krise, sondern der Fakt, dass die Förderländer – insbesondere die USA, Russland und einige Länder des Nahen Ostens – sich kaum mehr einigen können. Früher haben sie im Rahmen von Kartellen die Produktion künstlich reduziert, um gemeinsam von hohen Preisen zu profitieren. Jetzt, wo die Branche anfangen muss, ihr Überleben zu sichern, kämpft jeder für sich.
Wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, Subventionen für fossile Energie abzuschaffen?
Eigentlich schon. Die USA planen aber ganz im Gegenteil, fossile Konzerne durch neue Subventionen zu unterstützen und Umweltauflagen für Fahrzeuge in der Corona-Krise auszusetzen. Es ist wichtig, dass nicht noch mehr Länder diesem Beispiel folgen. Stattdessen sollten wir die aktuelle Krise nutzen, um gezielt nachhaltigere Geschäftsmodelle aufzubauen. Die geplanten Konjunkturprogramme müssen mit unserer Vision einer klimaneutralen Welt vereinbar sein. Das betrifft zum Beispiel die Bereiche Erneuerbare, Digitalisierung, öffentlicher Nahverkehr – da haben wir genügend Nachholbedarf.
Wie schätzen Sie die Chancen für derartige Programme in anderen Ländern ein?
Nehmen wir zum Beispiel Indien: Die dortige Regierung muss enorme Anstrengungen aufbringen, um der wachsenden Bevölkerung und Industrialisierung überhaupt eine Stromversorgung zu gewährleisten. Klima spielt da verständlicherweise eine nachgeordnete Rolle. Insbesondere, weil die weltweiten historischen Emissionen fast ausschließlich von Industrieländern verursacht wurden. Auch heute noch betragen in Indien die jährlichen Emissionen pro Kopf mit unter zwei Tonnen nur ein Fünftel der deutschen Emissionen. Ländern wie Indien muss deshalb mehr Zeit für die Energiewende zugestanden werden. Europa und Deutschland müssen dagegen ihr Tempo deutlich erhöhen und schneller aus der Kohle raus. Gewisse Technologien können dann in den Ländern, die erst später aus der Kohle aussteigen, übersprungen werden.
Was meinen Sie damit, Technologien zu überspringen?
Das ist das sogenannte Phänomen des «Leapfrogging»: Einzelne schmutzige und nicht benötigte Stufen eines Entwicklungsprozesses können übersprungen werden. Zum Beispiel sollten ärmere Länder, die gerade erst elektrifiziert werden, nicht in fossile Energieträger wie Kohle oder Erdgas einsteigen – sondern direkt in erneuerbare Energiequellen. Die junge Generation kauft sich heutzutage – egal ob in Deutschland oder in Ländern in Afrika – ja auch kein Festnetztelefon oder Faxgerät mehr. Sondern direkt ein Smartphone.
Es besteht aber die Gefahr, dass Erneuerbare hauptsächlich von ausländischen Firmen importiert werden. Nehmen wir Südafrika: Dort gibt es massenhaft Kohle. Zwar auch Wind und Sonne …
… aber die Technologien für die Erneuerbaren kommen häufig aus dem Ausland, das stimmt. Es ist verständlich, dass die Menschen lieber ihre eigenen Energiequellen nutzen und umbauen, anstatt von ausländischen Firmen abhängig zu werden. Hier muss man aufpassen vor westlicher Arroganz. Es besteht die Gefahr, dass das von oben herab betrachtet wird – auch seitens der Wissenschaft. Wenn zu viele ausländische Investoren ins Land marschieren, hat das erneut kolonialen Charakter. Das Problem ist nicht zwangsläufig, dass es ausländische Firmen sind, sondern dass die Gewinne nicht im Land bleiben. Aber es gibt auch positive Beispiele, wo es gemeinsam gut klappt: So boomt die Photovoltaik beispielsweise global. Und Länder wie Vietnam zeigen, dass der Einstieg in diese Technologie in sehr kurzer Zeit möglich ist – aber eben nur, wenn Regierungen entsprechende Anreize schaffen.
Pao-Yu Oei
Pao-Yu Oei, 1986 in Berlin geboren, studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Technischen Universität Berlin. 2014 ging er zu Forschungszwecken an die «University of Maryland» in den USA und an das «International Institute for Applied Systems Analysis». Seit 2017 leitet Oei an der TU Berlin die interdisziplinäre Nachwuchsforschungsgruppe «CoalExit» zum internationalen Kohleausstieg. Außerdem ist er seit 2019 als Beirat bei «Scientists for Future» aktiv.
-
Südafrika: Erneuerbare im Aufwind
Immer wieder politisch ausgebremst, eröffnen sich den Erneuerbaren in Südafrika nun neue Chancen für den Ausbau – und das trotz einer Energiekrise.
-
Kohleland Polen: Der Widerstand wächst
Das Gastgeberland des Weltklimagipfels 2018 setzt nach wie vor massiv auf Kohleförderung. Doch Umwelt- und Klimaschützer finden zunehmend Gehör.