«Ich nenne sie die Inaktivisten»
Der Klimaforscher Michael E. Mann im Gespräch mit Christopher Schrader
Mit einer Grafik zur Klimaerwärmung wurde Michael Mann 1999 weltbekannt. Ein Gespräch über die neuen Tricks und Täuschungsmanöver der Fossilindustrie.
Plumpes Leugnen zieht nicht mehr – darum haben die Freunde und Profiteure von Kohle, Öl und Gas eine neue Strategie entwickelt. Sie erklären unser individuelles Verhalten zum Schlüssel für Erfolg oder Misserfolg im Klimaschutz, um damit von ihrem eigenen Beitrag und von politischen Lösungen der Krise abzulenken, analysiert Michael E. Mann in seinem aktuellen Buch «The New Climate War».
Der Klimawissenschaftler aus Pennsylvania verfolgt die Aktivitäten der Gegner von effektivem Klimaschutz seit Jahrzehnten – notgedrungen. Er steht schließlich sozusagen auf der Abschussliste der Leugner und Lobbyisten, seit er mit zwei Kollegen vor mehr als 20 Jahren die erste Rekonstruktion des Temperaturverlaufs der vergangenen 1.000 Jahre in der Nordhemisphäre vorgelegt hatte. Diese steigen nach einem eher unauffälligen Verlauf seit Beginn der Industrialisierung steil an; das Diagramm wurde darum schnell «Hockey Stick» (Eishockeyschläger) getauft.
Als es prominent im «Dritten Sachstandsbericht des IPCC» von 2001 gezeigt wurde, geriet Mann ins Fadenkreuz: Aufgrund seines Beitrags, aber auch wegen E-Mails, die 2009 bei einem Hackerangriff auf eine englische Universität gestohlen und veröffentlicht wurden, versuchten seine Gegner – schlussendlich vergeblich –, ihm Manipulationen der Datenlage nachzuweisen und damit seine Glaubwürdigkeit zu zerstören; der Geophysiker erhielt schließlich sogar Morddrohungen. Mehrere Kommissionen sprachen ihn vom Vorwurf des wissenschaftlichen Fehlverhaltens frei – und der «Hockey Stick» wurde von etlichen darauffolgenden Studien bestätigt.
Michael Mann hat mehrere Bücher verfasst. Sein aktuelles beschreibt den Kampf gegen Konzerne, die längst wissen, dass die Klimakrise da ist, aber so lange wie möglich am Geschäft mit fossilen Rohstoffen festhalten wollen. Die deutsche Fassung «Propagandaschlacht ums Klima» erschien im März 2021. Warum wir in eine Falle tappen, wenn wir im Kampf gegen die Klimakrise allein unser privates Verhalten betrachten, erklärt Mann im Gespräch mit dem Energiewende-Magazin.
Herr Mann, Sie scheinen eine Vorliebe für englische Wörter mit D zu haben. Ein früheres Buch, «Der Tollhauseffekt», handelte von «denial», also dem Leugnen der Klimakrise, in all seinen Formen. Dann ging es um «discrediting», also das Unglaubwürdig- und Verächtlichmachen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, das Sie auch selbst erfahren haben. Im neuen Buch heben Sie nun mindestens fünf weitere Wörter mit D hervor.
Ja, da haben Sie wohl recht. Es sind «downplaying», «delay», «deflection», «division» und «despair-mongering».
Schade, dass keines davon eine deutsche Übersetzung mit einem D am Anfang hat.
Aber «Dummheit» hat eines, das passt doch irgendwie auch dazu.
Das stimmt. Die anderen fünf stehen für herunterspielen, verzögern, ablenken, spalten und Hoffnungslosigkeit verbreiten. Was steckt dahinter?
Mein Buch handelt von einem Strategiewechsel bei den gesellschaftlichen Kräften, die weiterhin fossile Energien nutzen und uns vor allem verkaufen wollen. Ich nenne diese Kräfte die «Inaktivisten». Sie hören allmählich mit dem platten Leugnen des Klimawandels auf, weil das einfach nicht mehr glaubwürdig ist. Es kann doch jeder sehen, dass der Klimawandel nicht nur real, sondern längst da ist. Dazu muss man sich nur an das erinnern, was vor Kurzem in Texas passiert ist, oder an andere Extremwetterereignisse. Darum haben sich die Inaktivisten einer ganzen Reihe neuer Taktiken zugewandt. Ihnen ist es letztlich vollkommen egal, warum wir weiterhin von fossilen Brennstoffen abhängig bleiben – solange wir abhängig bleiben.
Wie genau gehen die Inaktivisten jetzt vor?
Sie spielen das Problem immer noch herunter und versuchen, den Einstieg in die nötige Transformation zu verzögern. Zudem bemühen sie sich, dem individuellen Verhalten der Menschen die größte Verantwortung für die Bewältigung der Klimakrise zuzuschieben. Damit lenken sie von den nötigen Veränderungen auf der systemischen Ebene ab und versuchen, die Klimabewegung zu spalten. Und dann gibt es die Taktik, uns einzureden, dass es zu spät sei, dass es keine Hoffnung mehr gebe, etwas gegen die Probleme zu tun. Das kann uns auf den gleichen Pfad des Nicht-Handelns lenken wie das unverblümte Leugnen. Denn mit jedem weiteren Jahr, in dem wir unsere Energie vor allem aus fossilen Quellen beziehen, machen die Inaktivisten Milliarden US-Dollar Profite.
Schauen wir uns einige der Methoden genauer an: Wie funktioniert das Ablenken?
Die Inaktivisten geben den einzelnen Menschen die Schuld an der Klimakrise. Ganz nach dem Motto: «Ihr wollt doch all diese Produkte kaufen, Ihr schafft es doch nicht, euch einzuschränken», so nach dem Motto. Das lenkt unsere Aufmerksamkeit auf unseren privaten CO2-Fußabdruck, nicht auf den der Konzerne. Das Konzept stammt übrigens von einer Ölfirma, «British Petroleum». Sie hat Anfang der 2000er-Jahre ein Berechnungsverfahren für diesen Fußabdruck entwickelt und vorgestellt.
Vorher gab es ja schon den ökologischen Fußabdruck, der tatsächlich in verbrauchter Fläche gemessen wird.
Der Fußabdruck von BP erfasst den Ausstoß von Treibhausgasen in Tonnen CO2-Äquivalenten. Damit wollte sich der Konzern ein neues Image geben und seine Abkürzung von «British Petroleum» zu «Beyond Petroleum» – also jenseits des Erdöls – umdefinieren.
Gibt es denn Belege, dass die Industrie mit ihrer Ablenkungstaktik durchkommt?
So ganz kann man das noch nicht beurteilen, weil die Kampagne erst seit Kurzem läuft, aber sie hat erstaunliche Erfolge. Die New York Times zum Beispiel – das ist die für Liberale und Progressive in den USA vermutlich wichtigste Zeitung – hat früher oft über gemeinschaftliche Aktionen und politische Ziele geschrieben. Aber dann handelten sehr viele Artikel davon, was Einzelne tun können: die Ernährungsweise umstellen, nicht mehr so oft verreisen, Elektroautos kaufen. Viele der Botschaften über Lösungen für die Klimakrise konzentrieren sich inzwischen auf das individuelle Verhalten; es geht mittlerweile kaum noch um systemische Veränderungen.
Sie können doch aber kaum die New York Times beschuldigen, Lobbyismus für Ölfirmen zu betreiben.
Nein, aber es zeigt, wie erfolgreich die Kampagne zum Umlenken der Verantwortung schon gewesen ist.
Existiert ein Widerspruch zwischen Änderungen im individuellen Verhalten und auf der Ebene des Systems von Gesetzen, Regeln und Standards?
Nein, den gibt es nicht. Sie ergänzen sich und sind beide nötig. Wir alle sollten unser Verhalten überdenken und ändern. Alles, was unseren CO2-Fußabdruck verringert, erspart uns auch Geld und macht uns gesünder. Wir sind zufriedener mit uns selbst und geben anderen ein gutes Beispiel. Ich versuche auch, meinen Anteil dazu beizutragen: Unser Stromtarif zu Hause garantiert, dass die Elektrizität nur von Windkraftanlagen kommt. Wir haben ein Plug-in-Hybrid-Auto, ich esse kein Fleisch, weil auch meine Tochter keines isst.
Jetzt werben Sie aber selbst für individuelle Verhaltensänderungen!
Das ist ja auch wichtig! Aber wir dürfen es auf keinen Fall zulassen, dass solche Veränderungen als einzige Lösungsmöglichkeit dargestellt werden, und dadurch die nötigen systemischen Veränderungen aus dem Blickfeld verlieren.
Besteht diese Gefahr wirklich?
Es gibt da leicht widersprüchliche Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften. Zum einen: Wenn man mit kleinen Dingen anfängt, kommt man auf einen Pfad immer wachsenden Engagements. Man tut mehr und fragt sich: Was kann ich denn noch tun? Zum anderen: Wenn man sich auf das eigene Verhalten konzentriert, kann das die emotionale Energie verbrauchen, die man eigentlich für systemische Veränderungen benötigt. Wer also das Gefühl hat, persönlich schon ganz viel gegen die Klimakrise zu tun, dann aber zusätzlich noch eine CO2-Steuer bezahlen soll, könnte sich schon fragen, ob das wirklich gerechtfertigt ist. Wir müssen also vorsichtig sein, denn wir brauchen beides: das veränderte Verhalten und veränderte Gesetze. Wir sollten es so darstellen, dass sie sich ergänzen, nicht gegenseitig ausschließen.
Eigentlich könnte man doch auch denken, dass die Leute ein Gefühl für Fairness entwickeln: Ich leiste meinen Beitrag, jetzt ist als Nächstes die Industrie dran. Warum funktioniert das so nicht?
Ich bin leider kein Psychologe. Aber was passiert, hängt in diesen Fällen oft sehr stark von der genauen Ausdrucksweise ab, vom Framing. In welchen Bedeutungszusammenhang rücken wir ein Verhalten oder eine Forderung mit unserer Formulierung? Die Industrie ist gewohnt, darauf zu achten. Die Unternehmen bilden ihre Fokusgruppen und führen Umfragen durch. So haben sie erkannt, dass die Unterstützung für die systemischen politischen Veränderungen, die sie verhindern wollen, genau dann sinkt, wenn sie die individuelle Verantwortung sehr stark betonen.
Ist das Ablenken eine neue Strategie der Industrie?
Nein, sie ist jahrzehntealt und bewährt. Als ich ein Junge war, gab es in den USA einen berühmten Werbespot, der «The Crying Indian» hieß – so würde man es heute nicht mehr sagen, sondern vom weinenden «Native American» sprechen. Tatsächlich war es übrigens ein italienischstämmiger Schauspieler, und das war noch die geringste der Täuschungen.
Bei uns gab es berühmte Filme um den Apachen-Häuptling Winnetou, der von einem Franzosen gespielt wurde. Aber worin bestand die Täuschung bei dem Werbespot?
Er nutzte damals, in den USA der 1970er-Jahre, den Zeitgeist der Gesellschaft, die großen Respekt vor der Kultur der amerikanischen Ureinwohner hatte. Der Protagonist im Spot paddelt mit der Feder im Haar einen Fluss entlang. Im Wasser schwimmen Plastikflaschen und anderer Müll, und als er anlegt, wirft ihm jemand aus einem vorbeifahrenden Auto auch noch einen Müllbeutel vor die Füße. Der explodiert bei der Landung und verstreut seinen Inhalt. Und dann zoomt die Kamera auf das Gesicht des Mannes, und eine einzelne Träne läuft über seine Wange. Aus dem Off sagt eine Stimme: «Menschen fangen mit der Umweltverschmutzung an, Menschen können sie beenden.»
Klingt sehr bewegend und effektiv.
Das war es! Wie ich fühlten sich viele junge Leute angesprochen und irgendwie aufgerufen, privat etwas zu tun. Aber wir haben lange nicht verstanden, dass man uns in die Irre geführt hatte. Die Kampagne war von einer New Yorker Agentur an der Madison Avenue entwickelt und von Coca-Cola und anderen Getränkeherstellern bezahlt worden. Sie wollten gesetzliche Regelungen verhindern, die ein Pfandsystem für Behälter einführen sollten. Das wäre eine systemische Lösung des Problems gewesen, hätte die Firmen aber einen Teil ihrer Profite gekostet.
Und – hat es geklappt?
Oh ja, viele waren überzeugt, dass wir keine neuen Regelungen brauchten. Wir müssten nur besser auf die Umwelt aufpassen! Bis heute gibt es nur in 13 der 50 US-Bundesstaaten Gesetze über ein Pfandsystem; es ist aussichtslos, eines auf Bundesebene verabschieden zu wollen. Und jetzt benutzt die fossile Energiewirtschaft genau dieses altbewährte Drehbuch: Sie lenkt uns von der Notwendigkeit ab, systemische Veränderungen anzustoßen, und macht stattdessen unser individuelles Verhalten zur eigentlichen Ursache für die Klimakrise.
Wenn ich Ihr Buch richtig verstehe, hat die Strategie der Ablenkung aus Sicht der Konzerne noch einige erwünschte Nebenwirkungen.
In der Tat: Wenn das persönliche Verhalten in den Mittelpunkt rückt, löst dies Konflikte aus. Die Industrie wird gewinnen, wenn Klimaaktivisten miteinander streiten, mit dem Finger auf andere zeigen, sich gegenseitig für ihr Verhalten an den Pranger stellen. Solche Konflikte werden online von Trollen und Bots nach Kräften gefördert. Das ist die alte Teile-und-herrsche-Strategie.
Ob man fliegt oder Fleisch isst, wird dann zu einer Art Reinheitstest. Wird jemand, der das noch tut, denn überhaupt ernst genommen in der Klimaszene?
Genau solche Zweifel versuchen die Inaktivisten zu nähren: «Fox News» und die rechtsgerichteten Medien stellen zum Beispiel Al Gore oder Leonardo DiCaprio als Heuchler dar und versuchen ihnen so die Glaubwürdigkeit als Botschafter der Veränderung zu nehmen.
Sind die beiden denn nun Heuchler?
Nein, auf keinen Fall! Sie propagieren ja beide nicht, dass man seinen eigenen Fußabdruck senken muss, indem man zum Beispiel zum Veganer wird und auf das Fliegen verzichtet. Sie kämpfen innerhalb ihres Lebens sehr effektiv für den Wandel und eine Veränderung der öffentlichen Meinung. Als DiCaprio seine Dankesrede bei den Oscars fast komplett der Klimafrage widmete, gab es auf Twitter so viel Aktivität zum Thema Klimawandel wie nie zuvor.
Ist dann das persönliche Verhalten doch wieder egal?
Nein, aber da wird etwas vermischt, es gibt sozusagen eine versteckte Prämisse der Debatte: Tugendhaftes Verhalten wird stillschweigend zur Voraussetzung gemacht, dass man sich im Kampf gegen die Klimakrise überhaupt äußern darf, teilweise wird man sogar darauf reduziert – gerade, weil all das, was wir an den größeren Ursachen im System ändern müssen, so weit aus dem Blickfeld geraten ist. Wenn Sie Menschen fragen, wie sie gegen die Klimakrise vorgehen könnten, dann fällt ihnen eher ein, dass sie Vegetarier werden müssen, als bei der nächsten Wahl entsprechend abzustimmen und ihre Abgeordneten anzutreiben.
Geraten damit Leute wie Sie, die sich zum Beispiel aus wissenschaftlicher Perspektive zur Klimakrise äußern und für den politischen Kampf dagegen werben, in eine Zwickmühle? Immerhin haben auch Sie mir ja eben, ohne dass ich überhaupt danach gefragt habe, aufgezählt, wie Sie Ihr persönliches Verhalten geändert haben.
Genauso ist es. Wenn ich nicht bereit wäre, meinen Worten persönlich Taten folgen zu lassen, würde ich dafür angegriffen werden – was auch schon geschehen ist. Irgendein Klimawandelleugner hat mein Haus auf Google Earth gesucht und dann gepostet, ich hätte ja nicht einmal Solarzellen auf dem Dach. Er hatte zwar die falsche Adresse, aber es stimmt: Wir wohnen in einer bewaldeten Gegend und haben zu viel Schatten auf dem Grundstück. Darum der Windstrom-Tarif. Die Angriffe kamen aber auch von der anderen Seite. Aktivisten für Tierrechte oder vegane Ernährung kritisierten mich, wenn ich betont habe, wir dürften uns nicht nur auf das individuelle Verhalten konzentrieren. Das würde ich doch nur sagen, damit ich weiter die dicken Steaks essen könne. Und dann muss ich damit argumentieren, dass ich gar kein Fleisch esse und mich gegen die Spaltung der Aktivisten wende, die uns auf den falschen Weg bringt.
Sie müssen also auch erst Ihre Reinheit oder Untadeligkeit belegen, bevor man Ihnen zuhört?
Viele empfinden offenbar, dass das nötig sei, schrecken dann aber ihr Publikum ab, wenn sie die radikalen Änderungen im eigenen Leben aufzählen. Vielleicht meinten Sie das eben mit der «Zwickmühle». Aber ich denke, das wird vor allem instrumentalisiert. Mein persönliches Verhalten spielt bei den allermeisten Interviews, die ich gebe, und Vorträgen, die ich halte, überhaupt keine Rolle. Es ist schon gut, die richtigen Signale zu senden und zu tun, was man kann. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass jemand diese Änderungen im Verhalten ausnutzt, um von den tatsächlich wirksamen Lösungen und nötigen Reformen auf systemischer Ebene abzulenken.
Was wären denn die systemischen Lösungen, die Ihnen vorschweben?
Die Idee ist, dass auf der Ebene der Gesetze die Veränderungen für uns sozusagen unsichtbar sind. Sie führt uns in die richtige Richtung, ob wir das nun verstehen oder nicht. Gerade Deutschland hat der Welt gezeigt, dass wir das schaffen können, dass wir diesen Weg beschreiten können. Zum Beispiel gibt es hier schon einen CO2-Preis …
… der viel zu niedrig ist …
… und Einspeisetarife für erneuerbare Energiequellen. Das führt die Menschen insgesamt in die richtige Richtung. Ich bin optimistisch, dass wir so etwas in den USA innerhalb der nächsten Jahre auch bekommen.
Die Veränderungen werden also zunächst die Energiewirtschaft betreffen?
Ja, es beginnt mit der Energie: Saubere Energie zu beziehen sollte billiger sein oder jedenfalls nicht mehr kosten, als bei der schmutzigen zu bleiben. Das wirkt dann als Preissignal, um das Klimasystem nicht weiter zu beschädigen. Ich glaube fest daran, dass Menschen die richtigen Entscheidungen treffen, wenn es einfach für sie ist.
Aber viele andere Reformen zielen auf den Verkehr, das Reisen, den Konsum, die Ernährung und die industrielle Landwirtschaft – und dann kommen die Veränderungen im Lebensstil doch auf diesem Weg zu den Menschen zurück. Was ist denn dann gewonnen?
Es wäre eine gefährliche Strategie, wenn es für viele Menschen zu sehr nach Verzicht und persönlichen Opfern klingt, die sie bringen müssen. Aber wir können mit Anreizen und Kompromissen arbeiten. Eine andere Ernährungsweise könnte für die Menschen preiswerter, gesünder und einfacher einzuhalten sein.
Trotzdem sind wir dann wieder beim persönlichen Verhalten.
Es gibt aber auch andere Hebel. Lassen Sie mich beim Beispiel Fleisch bleiben. Wir können die Haltungsbedingungen für den Viehbestand ändern, sodass die Tiere dabei helfen, Kohlenstoff im Boden zu binden – und Futtermittel benutzen, mit denen Kühe weniger Methan produzieren. Und wir müssen auch die Relationen betrachten: Wenn jeder und jede von uns einmal im Jahr ein Steak isst und ein paar Hamburger, dann ruinieren wir damit nicht das Klima. Rindfleisch ist für ungefähr drei Prozent aller Emissionen verantwortlich. Wenn es uns gelingt, das Energie- und Transportsystem auf grüne Energie umzustellen und wir gleichzeitig geschädigte Wälder wieder aufforsten und oder neu anlegen, dann kann die Natur die Treibhausgase aus der Viehwirtschaft locker aus der Atmosphäre ziehen. Wir dürfen nicht das Perfekte zum Feind des Guten werden lassen.
Das gilt ja womöglich auch für die Ziele und Handlungsoptionen der neuen US-Regierung. Wie sehen Sie die Situation in Ihrem Land? Fürchten Sie weiterhin, dass die Konzerne mit den ganzen D-Wörtern Erfolg haben?
Das Buch ist im vergangenen August in Druck gegangen – da wussten wir alle noch nicht, was passieren würde. Ich habe durchaus damit gerechnet, dass wir in Joe Biden wieder einen demokratischen Präsidenten haben werden. Aber jetzt sehen wir, dass der Kongress praktisch in der Mitte gespalten ist. Ich glaube daher nicht, dass wir weitreichende Reformen bekommen, die an die Vorschläge eines «Green New Deal» heranreichen [ein von progressiven Demokraten verfochtenes, großes nationales Programm, um Infrastruktur und soziale Verhältnisse klimafreundlich neu zu gestalten, Anm. d. Red.]. Aber Kompromisse, die einen CO2-Preis, Anreize für erneuerbare Energiequellen und anderes einschließen, die sind schon möglich. Und Biden hat verstanden: Weil der Klimawandel jeden Aspekt unseres Lebens betrifft, müssen wir auch in jeder Bundesbehörde daran arbeiten. Das ist etwas Neues. Unter Barack Obama war Klimapolitik auf die Umweltbehörde und das Energieministerium beschränkt.
Und international?
Die Regierung hat vom ersten Tag an dem Rest der Welt das Signal gesendet: Wir sind wieder da! Und diese politischen Veränderungen treffen auf eine internationale Jugendbewegung, «Fridays for Future». Die jungen Aktivistinnen und Aktivisten verschieben die Debatte dorthin, wo sie immer schon hätte sein sollen. Es geht um die ethische Verpflichtung, dass wir diesen Planeten für die kommenden Generationen nicht ruinieren dürfen. Und genau dieser Aufgabe müssen auch Politik und Wirtschaft dienen – Inaktivisten hin oder her.
Das Interview mit Michael E. Mann haben wir auch auf Englisch veröffentlicht.
Michael E. Mann und sein neues Buch
Michael E. Mann, 1965 in Amherst, Massachusetts geboren, ist Geophysiker und Professor für Atmosphärenforschung und Paläoklimatologie an der «Pennsylvania State University». Er betreibt unter anderem mit einigen Kollegen den Blog «RealClimate» und hat fünf Bücher geschrieben, die von der Klimakrise und dem Umgang mit Fakten und Wissenschaftlern in seinem Heimatland handeln.
2021 erschien «The New Climate War» – in der deutschen Übersetzung «Propagandaschlacht ums Klima» im Verlag «Solare Zukunft».
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