Mobilität

Kiezblocks sind eine stadtplanerische Möglichkeit zur Verkehrsberuhigung. Unser Mitarbeiter hat das auf einmal vor der eigenen Haustür erlebt.

Plötzlich Kiezblock

Eines Tages lag das Informationsschreiben im Briefkasten: Unser Viertel wird zum Kiezblock umgestaltet, mit dem Ziel, den Autoverkehr deutlich zu senken. «Wie genial ist das denn!», rufe ich. «Die ham sie ja nicht mehr alle!», schimpft meine Freundin und zeigt auf die Karte, die ein System aus gegenläufigen Einbahnstraßen zeigt. «Wenn wir von stadtauswärts kommen, können wir jetzt nicht mehr bis zu unserem Haus vorfahren!» - Diese kleine Szene an unserem Küchentisch spiegelt bereits im Kleinen, was die Maßnahme im Großen bedeutet: konträre Sichtweisen, Freud und Leid, Gewinner und Verlierer. Doch der Reihe nach.

Die Ausgangslage

Wir leben im Komponistenviertel in Berlin Weißensee: ein Viertel, das knapp außerhalb des S-Bahn-Rings liegt, vom Charakter eher klein- als großstädtisch. Natürlich haben Bauboom und Gentrifizierung in den letzten Jahren hier auch nicht halt gemacht. Seitdem das Komponistenviertel – die Straßen tragen die Namen von klassischen Komponisten – zur Jahrtausendwende als Stadtentwicklungsgebiet ausgeschrieben wurde, ist es besonders bei jungen Familien beliebt geworden, die das Gesicht des Kiezes deutlich prägen. Ein dichtes Angebot an Schulen, Kindergärten und Spielplätzen tut sein Übriges. 

Der Anstoß zur Veränderung kommt von einer Bürgerinitiative. Hauptziel war es, den Durchgangsverkehr einzuschränken. Wie eine Verkehrszählung ergab, nutzten auf einigen Straßen über 50 Prozent der Autofahrer:innen den Kiez, um sich den Weg über die stadtauswärts führende Hauptverkehrsstraße B96 (Berliner Allee) zu sparen, die gerade zu Hauptverkehrszeiten chronisch voll ist. Das führte zu Konflikten und Unfällen, teilweise mit Schulkindern, deren Schulwegsicherheit durch den raumgreifenden Autoverkehr nicht gewährleistet war. Auf Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) hat das Bezirksamt Pankow entschieden, das Komponistenviertel als Kiezblock zu gestalten.

Kiezblocks bzw. Superblocks

Das Konzept, den Automobilverkehr in Quartieren einzuschränken und darin für mehr Stadtgrün und Aufenthaltsqualität zu sorgen, wurde in Barcelona bereits sehr erfolgreich umgesetzt. Die sehr dicht bewohnte Stadt litt lange unter Hitze, Abgasen, Lärm und hohen Stickoxid-Werten.

Als Gegenmaßnahme wurden die Superblocks eingeführt: Je neun Wohnblocks zu Superblocks gruppiert, innerhalb derer der Autoverkehr durch Fahrverbote und Tempolimits massiv eingeschränkt wurde. Dafür erfolgte die Umwidmung des Straßenraums, die Entsiegelung von Flächen und deren Begrünung sowie die Schaffung von Aufenthaltszonen.

Das Modell von Barcelona gilt inzwischen als Erfolgsmodell, die Schadstoffbelastung ist massiv gesunken, die Lebensqualität dagegen gestiegen. In Berlin, wo aufgrund des gestiegenen Autoverkehrs der Durchgangsverkehr in sehr vielen Wohngebieten ein Problem ist, sind zahlreiche Kiezblock-Initiativen aktiv.

Das Komponistenviertel wird Kiezblock

Die Maßnahmen für eine Verkehrsberuhigung in unserem Kiez kommen bei Weitem nicht so plötzlich, wie es für einige den Anschein hat: Bereits 2020 reichte die Anwohner:inneninitiative Pläne zur Verkehrsberuhigung ein. Entwickelt wurde das Konzept ab 2021 vom Planungsbüro «stadtraum». Ausgehend von ausgiebigen Mobilitätsanalysen der forschenden Projektpartner wurden verschiedene Pläne entworfen.

Das Maßnahmenkonzept, das sich letztlich durchsetzte, beinhaltet eine Teilung des Viertels in der Mitte. Die vorher beidseitig befahrbaren Längsstraßen werden entlang zur Grenze zu gegenläufigen Einbahnstraßen. Zudem wurde die Bizetstraße, die zuvor am meisten zur Durchfahrt genutzt wurde, mit Fahrbahnmarkierungen als Fahrradstraße ausgewiesen. Die Einbahnstraßen gelten dabei nur für den Autoverkehr, Fahrräder haben weiter freie Fahrt in alle Richtungen.

Ob die Maßnahmen zum gewünschten Ergebnis führen, wird von mehreren Instituten wissenschaftlich evaluiert. Aufgrund von Personalmangel und mangelnder Verfügbarkeit von Straßenbaufirmen verschob sich die ursprünglich für 2021 avisierte Umsetzung bis in dieses Jahr. 
 

Schwieriger Start

Doch trotz aller wissenschaftlicher und fachlicher Expertise kann das Komponistenviertel als Beispiel herhalten, wie ein Projektstart NICHT laufen sollte. Die Schilder wurden erst nach und nach enthüllt, was zu unklaren Regelungen führte. Die Schilder an den Einfahrten, die die Verkehrsteilnehmer:innen über die neue Situation informierten, kamen zuletzt. So versank das Komponistenviertel an den ersten Tagen nach der Umstellung im Verkehrschaos: Autofahrer:innen, die wie gewohnt ins Viertel einbogen, mussten feststellen, dass der gewohnte Weg versperrt war. Viel Zufluss – begrenzter Abfluss: In der Folge kam es zu einem gigantischen Rückstau in allen Straßen des Viertels. So viele Autos und so viel Stau hatten diese Straßen vermutlich noch nie gesehen. Als Notfallmaßnahme gab die Polizei am zweiten Stau-Nachmittag eine neue Einbahnstraße vorübergehend auch in die Gegenrichtung frei, um den Verkehr abfließen lassen zu können. Das Verkehrschaos war Thema in den RBB-Abendnachrichten und vielen Berliner Stadtmedien.
 

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Veränderung braucht Zeit

Große Verärgerung allenthalben – bei den Autofahrer:innen, den Bewohner:innen, in der lokalen Facebook-Gruppe, wo sich Gruppenmitglieder im Schimpfen über den «grünen Schwachsinn» gegenseitig überboten. Eine Petition, die Änderungen sofort wieder zurückzunehmen, sammelte in wenigen Tagen über tausend Unterschriften.

Wer angenommen hatte, dass Verkehrsstau, Blechlawine und Abgasbelastung zum Dauerzustand werden würden, konnte allerdings nach wenigen Tagen die Veränderung wahrnehmen. Die Schilder waren nun vollständig. Die neue Verkehrsführung war auch in den Navigationssystemen angekommen. Und wer sich einmal durch das überfüllte Komponistenviertel durchgestaut hatte, schlug fortan mit dem Auto andere Wege ein. Schon bald war die vorher dicht befahrene Bizetstraße tatsächlich als Fahrradstraße angenommen. Und verblüffenderweise säumen sogar weniger parkende Autos den Straßenrand, obwohl bislang nur vereinzelt Parkplätze umgewidmet wurden.

Im Dialog mit den Bürger:innen

Auch wenn sich das anfängliche Chaos inzwischen aufgelöst hat, der Ärger ist vor allem beim autofahrenden Teil der Einwohner:innen noch deutlich vorhanden, als das Bezirksamt knapp zwei Wochen später zur Info- und Dialogveranstaltung einlädt, wo Planungsbüro und Stadträdte noch einmal über Ziele, Rahmenbedingungen und Herausforderungen bei der Maßnahmenplanung sprechen. Und: Nichts ist statisch, betonen die Redner:innen immer wieder. Das Projekt wird fortlaufend evaluiert und spätere Änderungen sind nicht ausgeschlossen, wenn es nicht funktioniert.

Wie erwartet treffen sie im anschließenden Bürgerdialog auf eine Menge Wut, Unverständnis und Frustration. Die autofahrenden Anwohner:innen berichten von langen Umwegen bei der Parkplatzsuche und dem täglichen Arbeitsweg. Eine Ladenbetreiberin an der Berliner Allee beklagt Umsatzverluste, seitdem ihre Kundschaft nicht mehr im Kiez parken kann. 

Insgesamt zeigt sich bei der Veranstaltung eine Polarisierung zwischen Berfürworter:innen und Gegner:innen der Verkehrsberuhigung. Aber auch: Ein Austausch in freundlichem und respektvollem Ton ist (den meisten) auch bei solch einem emotionalen Thema möglich, wenngleich sehr deutlich wird: Man wird es nicht allen recht machen können. 
 

(Zwischen-)fazit

Gut einen Monat ist das Komponistenviertel nun Kiezblock. Der anfängliche Verkehrsinfarkt ist nicht zum Dauerzustand geworden, stattdessen zeigt sich klar der gewünschte Effekt. Die begleitenden Maßnahmen zur Kiezverschönerung – etwa Außenmöbel, die zum Aufenthalt einladen – sind noch nicht umgesetzt.

Wenn man aus den Erfahrungen bezüglich des Komponistenviertels lernen möchte, kann der chaotische Start sicher helfen, das Ausrollen der Maßnahmen richtig zu koordinieren. Die Kommunikations- und Dialogbereitschaft seitens der Verantwortlichen ist dagegen sehr vorbildlich. Die stadtplanerische Weisheit, dass man Verkehr erntet, wie man Straßen sät, zeigt sich auch im Komponistenviertel bereits nach kurzer Zeit.

Aus meiner Perspektive hat sich die Lebensqualität bereits verbessert. Ein Zurück zum alten Zustand wäre für mich eine Horrorvorstellung. Verlierer bleiben die, die den Anspruch haben, mit dem Auto stets überall hinzukommen. Aber Mobilitätswende bedeutet nun mal, diese Denke hinter sich zu lassen.