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Besser leben, um zu überleben

Ein Gastkommentar von Hanna Lehmann

Die langjährige Studienleiterin der Katholischen Akademie Freiburg über Erfolge, Widersprüche und den anstehenden gesellschaftlichen Wandel

Welch ein Privileg: Ich wohne in einer der schönsten, sonnenverwöhntesten Gegenden Deutschlands – im Schwarzwald, in Freiburg. Noch können dort im Winter die Loipen gespurt werden; immer wieder kann ich dann die Stille, das ruhige Gleiten der Langlaufskier durch den verschneiten Winterwald genießen.

Zu Hause sind unsere Bücherregale voll mit ökologischen Jahrbüchern, mit Fachliteratur zu Themen wie Anti-Atomkraft-Bewegung, Klimaschutz, Solares Bauen, Umweltpädagogik, gesunde Ernährung und vielem mehr. Vor unserer Haustüre bietet die Stadt uns ein reichhaltiges Angebot an Vereinen, Organisationen, Initiativen und Mitbestimmungsgremien. Es gibt den Nachhaltigkeitsrat der Stadt Freiburg und natürlich finden fast im Wochentakt gut besuchte Veranstaltungen oder Demonstrationen zu Klimaschutz, Gerechtigkeit und Teilhabe statt.

So bekommt man den Eindruck, hier sei alles möglich: Wir müssten uns nur alle einbringen, und dann würden wir die Klimakatastrophe schon in den Griff bekommen.

Derlei Zuversicht durchzog auch mein Arbeitsleben. Bei meiner Tätigkeit als Studienleiterin und Umweltbeauftragte an der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg gelang es mir, gemeinsam mit vielen anderen den Tagungs- und Hotelbetrieb ökologisch komplett umzugestalten. Stück für Stück konnten wir im Laufe meiner 25-jährigen Arbeit dort die Erkenntnisse umsetzen, die uns zuvor hochkarätige Referenten unserer Tagungen zu Themenbereichen wie Mobilität, Ressourcenknappheit oder Klimawandel vermittelt hatten – fernab von hierarchisch verordneten Anweisungen, aus gemeinsamem innerem Antrieb heraus.

Menschen brauchen die Herausforderung, etwas verändern zu können.

Hanna Lehmann

Wir bauten ein kleines Blockheizkraftwerk ein, reduzierten unseren Fuhrpark, wechselten zur ethisch orientierten GLS Bank und zu Ökostrom von den EWS; in unserem Gastrobereich schafften wir es, den Anteil regionaler, saisonaler und fair gehandelter Produkte auf 80 Prozent hochzuschrauben.

Es waren sicherlich nicht immer die schnellsten und kürzesten Wege, die zu einer derart vorbildhaft gelebten Nachhaltigkeit führten. Aber das geschenkte Vertrauen der Akademieleitung bot uns die Grundlage für das gute Gefühl, etwas verändern zu können.

Wir überführten diesen Vertrauensvorschuss in einen Beteiligungsprozess, der ganz ohne aufwendige Projektplanung auskam. Letztlich waren es die Ideen, die Kreativität und die Tatkraft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mit denen wir die Kluft zwischen theoretischer Erkenntnis und praktischem Handeln überbrücken und zu sinnvollen Prozessen und Abläufen gelangen konnten. Heute bin ich mir sicher: Menschen brauchen diese Herausforderung, etwas verändern zu können, sie brauchen das Gefühl, nicht ohnmächtig oder ausgeliefert zu sein.

Wie wollen wir leben? Wie sieht ein gutes Leben aus?

Hanna Lehmann

Wie halten wir die Widersprüche aus? Auf der einen Seite wächst das Wissen um die Folgen unseres Handels sprunghaft an, eine rasch wachsende Nachhaltigkeitsdebatte schlägt sich – durchaus ganz lebenspraktisch – in Studiengängen, Schulprojekten sowie in Initiativen, Fördermaßnahmen und Pilotprojekten nieder. Auf der anderen Seite aber dreht sich die Konsumspirale immer schneller und wir beobachten die zerstörerische Ausbeutung der Ressourcen, die Vernichtung von Lebens- und Rückzugsräumen und dazu einen schier unbezähmbar wirkenden Mobilitätshunger.

Um in dieser widerspruchsvollen und verfahrenen erscheinenden Situation die Transformation der Gesellschaft wirklich in Angriff zu nehmen, brauchen wir einen tiefgreifenden kulturellen Wandel. Im Zentrum stehen dabei aus meiner Sicht zwei grundlegende Fragen: Wie wollen wir leben? Wie sieht ein gutes Leben aus?

Dieser Wandel zu einem anderen, besseren Zusammenleben setzt einen Paradigmenwechsel voraus: Das Private, lange verstanden als ein verbrieftes Freiheitsrecht, das sich ausschließlich auf die Gestaltung des eigenen Lebens bezog und das davon ausging, dass sich jeder, so wie er möchte, frei entfalten kann, muss wieder politisch werden. 

Moralisch sein hieße – unter neuen Paradigmen – etwa, über die Maßstäbe des eigenen Handelns nachzudenken, diese zu benennen und daraus eine eigene politische Praxis zu entwickeln, die dann beim Konsum, im Mobilitätsverhalten und im Zusammenleben ihren Ausdruck findet. Unser Lebensstil muss sich komplett den Gegebenheiten der Klimaveränderung und der Ressourcenverknappung unterordnen – ohne dass wir dabei die gewonnenen Rechte und unsere sozialen Errungenschaften aus den Augen verlieren.

 

ES geht hier um ein neues Qualitätsverständnis.

Hanna Lehmann

Diese neue Mündigkeit zeigt sich im Innehalten, im Beschränken und vor allem im Weglassen. Es geht um ein neues Qualitätsverständnis. Eine Neuanschaffung für die Wohnung, für den Haushalt oder einfach zum Anziehen hat neben dem Materialwert einen Herstellungswert, der die bezahlte Arbeit wertschätzt und einen ästhetischen Wert. All diese Wertigkeiten können – in Einklang gebracht – dafür sorgen, dass wir Waren schaffen, die über modische Trends hinaus praktisch und vor allem langlebig sind. Hierzu muss allerdings auch das Auge, die ästhetische Wahrnehmung, geschult und die Warenkenntnis vergrößert werden.

Wir brauchen diese Welt der langlebigen und damit ressourcenschonender Dinge. Denn was uns heute als das Neue, das Unverzichtbare, das Zeitsparende, als das Entlastende angepriesen, ja untergejubelt wird, ist nur die Fortsetzung eingefahrener, nicht hinterfragter und stabilisierender Mechanismen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems.

Neben dieser Umgestaltung der Waren- und Wirtschaftswelt müssen im Sinne eines nachhaltigen Lebensstils allerdings auch die Errungenschaften der zivilisatorischen Gesellschaft wie Demokratie, Freiheit, Bildung und Gesundheitsversorgung neu gedacht, neu definiert und umgesetzt werden.

Abenteuer ereignen sich gratis am Wegesrand.

Hanna Lehmann

Am Beispiel der Mobilität lassen sich die Parameter neu überdenken. Stellen wir uns vor, unsere Reisen, die wir für den Urlaub zurücklegen, wären bereits geprägt von dem Weg, der Zeit und von den Begegnungen und Erlebnissen, die wir haben, bis wir an das Ziel kommen. Vom ersten Tag an genießen wir die Reise: mit leichtem Gepäck, zu Fuß oder mit einem Mobilitätsmix zwischen Fahrrad, Bus und Schiene.

Was fangen wir an mit dem vielen Geld, das wir so sparen? Wir können es einfach weitergeben, als Beitrag für nachhaltige Projekte oder zur Unterstützung der jüngeren Generation. Denn welche Kreativität, welch gute Laune strahlt da gerade auf den Straßen, wie eng sind die Schülerinnen und Schüler und die anderen jungen Leute organisiert und vernetzt!

Ihre stärkste Waffe sind dabei die klaren Forderungen, die sie stellen: Diese Forderungen – nicht wenige verstehen sie als Zumutung – bieten auch Eltern, welche die Klimakrise immer noch nicht wahrhaben wollen, eine neue Chance. Sie können Haltung zeigen, Stellung beziehen – und können sich selbst fragen:

Warum ist die Welt so, wie sie ist? Brauchen wir das?

Eine Reise beginnt.

 

Eine ältere, zuversichtlich lächelnde Frau steht im Grünen, den gestreiften Pullover leger um die Schultern geschlungen.
Hanna Lehmann

Geboren in Brandenburg an der Havel und aufgewachsen in Bielefeld, unterrichtete Hanna Lehmann nach ihrem Studium in Freiburg zwölf Jahre lang als Lehrerin für Deutsch, Politik und Geschichte an der Katholischen Heimschule Lender Sasbach bei Achern. Anfang der 1990er-Jahre nahm sie das Angebot an, als Studienleiterin der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg zu arbeiten. In dieser Position war sie bis zu ihrem Ruhestand 2016 tätig. Hanna Lehman ist Mitbegründerin der Freiburger Bürgerstiftung und Vorsitzende des Stiftungsrats. Sie lebt heute mit ihrem Mann, dem Solararchitekten Rolf Disch, in Freiburg.

Ihren Vortrag beim Schönauer Stromseminar 2019 finden Sie auf dem YouTube-Kanal der EWS.

29. Juni 2019 | Energiewende-Magazin