Die bissige Mücke und der Klimakiller
Eine Glosse von Thilo Bock
Klima – wen juckt’s? Lesebühnenaktivist und Autor Thilo Bock räsoniert über Blutsauger, Extremwetter und Flugscham – und hofft auf baldige Linderung.
Die bissige Mücke und der Klimakiller
In allen Lebensbereichen brechen Gewissheiten weg: Bayern München wird nicht automatisch Deutscher Meister. Aus unseren Steckdosen strömt immer seltener böser Strom. Und Mücken halten uns nicht mehr wach, weil wir ihrem Gesirr durchs Schlafzimmer hinterherhechten.
Die Mücken von heute nähern sich ihren Opfern lautlos und sie stechen nicht mal. Vielmehr beißen sie sich fest für ihre kleine Blutmahlzeit zwischendurch. Jedenfalls die Kriebelmücken, zu denen ich kürzlich Erstkontakt hatte. Ich saß auf einer Insel, mitten im Mittelmeer, schaute verträumt auf die glutrot ins Meer eintauchende Sonne, als es mich am rechten Zeigefinger zu jucken begann. Beiläufig gab ich diesem Reiz nach. Resultat war eine tiefviolette Blutblase, die mir am nächsten Morgen entgegenleuchtete. Und sie blieb beileibe nicht die einzige alarmfarbige Stelle auf meiner Haut. Die an meinem Urlaubsort ansässige Kriebelmückensippe hatte offenbar Geschmack gefunden an den Nukleotiden in meinem Blut. Was auch immer das ist. Ich habe zwar den Begriff Adenosintriphosphat im Artikel der Wikipedia über Kriebelmücken aufgeschnappt, kapitulierte aber bei der Lektüre der verlinkten Erläuterung bereits beim Wort Nukleotid – nach dem dritten Komma und noch vorm ersten Punkt.
Meine Unkonzentriertheit schöbe ich gerne auf die schmerzenden Insektenbisswunden, vornehmlich lenkte mich allerdings der Blick aufs unverschämt blaue Meer ab. Was mich zur Frage brachte, wie jene Kriebelmücken überhaupt auf diese Insel gekommen sind, wo sie doch nach meinen – zugegeben recht oberflächlichen – Recherchen eher in skandinavischen Feuchtgebieten heimisch sind. Ist es dort dank Klimawandel zu schwül geworden, weshalb die Viecher sich milliardenfach vermehrt haben und nicht mehr genug Platz für alle war?
Letztlich bin ich also selber schuld – und nicht nur, weil ich gekratzt habe. Ich bin nun mal ein Mensch. Und noch schlimmer: Ich verhalte mich wie einer. Jahrzehntelang habe ich für verstärkten Absatz von deutschem Tofu gesorgt und lediglich aus frischer Schwarzwaldluft schonend handgefilterten Strom in meine Elektrogeräte fließen lassen. Unterwegs bin ich mit der Eisenbahn, aber als mein Nachtzug auf einem Abstellgleis bei Dĕcín zum Stehen kam, wurde ich schwach, weil eben Mensch.
Auf die nämliche Insel wäre ich sowieso nie gelangt ohne eine Schweröl verdampfende Fähre. Meine Ruderskills sind eher marginal. Und noch schlimmer: Um überhaupt in die Nähe eines Hafens zu gelangen, bin ich – einer Kriebelmücke gleich – mal eben in die Luft gegangen, wie Millionen andere Menschen, die den seit Jahren trendenden Schuldkomplex «Flugscham» ganz gut hinter ihren Lonely-Planet-Reiseführern zu verstecken wissen. Denn – ja, doch – die Welt ist schön. Besuchen wir ihre abgelegensten Ecken also, solange das noch möglich ist und bevor wer anderes eine Google-Bewertung des Ortes abgegeben hat. Netter Meerblick, aber Vorsicht vor bissigen Mücken!
So sitzen wir also mit versonnenem Blick aufs Mittelmeer, in dem ein paar Seemeilen weiter ein überbesetztes Schlauchboot Schlagseite bekommt, weil sich Menschen gezwungen sahen, ihre Heimat zu verlassen, wegen gewalttätiger Mitmenschen und auch, weil ihre Lebensumstände unerträglich geworden sind durch – grob zusammengefasst – Extremwetterlagen.
Und jetzt die Kriebelmücke! An uns liegt das alles natürlich nicht. Wir sind ja die Guten. Die mit dem Ökostrom aus der Steckdose und dem E-Auto in der Garage. Den Diesel dagegen nutzen wir nur für lange Strecken. Wir retten das System, denn wir trennen unseren Müll schon länger, als es in Supermärkten Kühlregale mit Fleischsurrogaten gibt. So lecker! Habt ihr mal die neue Sorte «Crunchy Beef» probiert? «Also, ich schmecke da keinen Unterschied.»
Wir gehen regelmäßig auf Demos, also, wenn mal wieder was Großes angesagt ist, wo wir alle unsere Freunde treffen. Da können wir hinterher schön zusammen zum Portugiesen und diskutieren, wie wir die Welt retten. Nicht so radikal wie die Letzte Generation vielleicht. Wegen denen bin ich mal nicht zum Therapeuten gekommen. Eine Woche lang war ich total unausgeglichen.
Also, ich brauche eher was Umgänglicheres. «Kardiologen fürs Klima», «Pädagoginnen für Polarbären», «Rudern gegen Rechts». Oder doch zu den «Omas for Future»? Aber da müssen wir uns echt noch gedulden. Bevor die Kinder sich mal vermehren, bin ich pensioniert. Und wer weiß, bis dahin haben sich vermutlich sogar die Kriebelmücken organisiert. Bei «Insects for Adenosine triphosphate» womöglich. Meinen Segen hätten sie.
Im Übrigen gehöre ich natürlich nicht zu diesem Wir. Sie etwa? Ich habe nicht einmal ein Auto. Auf der Insel mitten im Mittelmeer war’s aber wirklich traumhaft. Und gegen die pusteligen Kriebelmückenbisse hatte der Inselapotheker eine lindernde Salbe parat. Es gibt für alles eine Lösung. Man muss sich nur darum bemühen. Zeitnahe wäre gut.
Thilo Bock
Thilo Bock, 1973 geboren, ist Geschichtenvorleser, Lyriksammler, Dadaversteher und Berliner. Er schreibt Dichtungen aller Art und hat drei Romane, dreieinhalb Erzählbände und einen Lyrikband veröffentlicht. Der langjährige Lesebühnenaktivist ist Mitglied der Berliner «Brauseboys».