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Alles ums Eck: die 15-Minuten-Stadt

Ein Bericht von Maja Mijatović

Die Klimakrise fordert einen Paradigmenwechsel in der modernen Stadtplanung – weg von der autogerechten, hin zu einer fußgängerfreundlichen, grünen Stadt.

In der Rue du Jourdain, im 20. Arrondissement des Pariser Stadtteils Belleville, ist es an diesem letzten Oktobertag ruhig. Die dortige Vorschule für Kinder zwischen drei und sechs Jahren ist geschlossen; in Frankreich sind gerade Herbstferien. Touristen ziehen ihre Rollkoffer über die Straße Richtung Metro. Auf der Fahrbahn markiert ein großes, weißes Fußgängerzeichen die Straße als «autofrei» – Umlaufsperren verhindern die Einfahrt für Pkws. Dort, wo früher Autos parkten, begrünen nun wild wuchernde Pflanzen in Trögen die asphaltierten Flächen. «Hier wird gegärtnert» steht auf einem Schild am Baum.

Dass die Durchfahrt für Autos verboten wurde, ist ein Ergebnis der Initiative «Rues aux écoles», die Straßen von Autos befreit, damit Kinder sicher und ohne Feinstaubbelastung durch Pkws zur Schule oder in den Kindergarten kommen. Von den 168 vorgesehenen «Straßen zu den Schulen» wurden seit Projektstart im Sommer 2020 bereits 114 zu Fußgängerzonen umgewidmet.

Es geht um Nachbarschaft, Beteiligung, Zusammenarbeit und Ökologie.

Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris und Mitglied der «Parti socialiste»

Es ist eine von vielen Maßnahmen, die im Rahmen des Konzepts «La ville du quart d’heure», der «15-Minuten-Stadt», umgesetzt werden. Treibende Kraft hinter dem Maßnahmenbündel ist die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die sich seit ihrer Wiederwahl 2020 für dieses Leitbild einsetzt. «Bei meinem Projekt geht es um Nachbarschaft, Partizipation, Zusammenarbeit und Ökologie. In Paris haben wir alle das Gefühl, keine Zeit zu haben, wir hetzen immer von Ort zu Ort und versuchen, Zeit zu gewinnen. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir die Stadt so umgestalten müssen, dass die Pariser von ihrer Wohnung aus innerhalb von 15 Minuten lernen, Sport treiben, sich medizinisch versorgen und einkaufen können», zitiert der britische Guardian die Bürgermeisterin bei der Präsentation ihrer Wahlkampagne Anfang Februar 2020.

Mit der Umgestaltung zur 15-Minuten-Stadt soll zudem ein wesentlicher Beitrag zum Klimaschutz geleistet werden. Die französische Hauptstadt ist schließlich Namensgeberin für das Pariser Klimaabkommen, mit dem sich die Europäische Union dazu verpflichtete, die Emissionen bis 2030 um 40 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 zu senken. Inzwischen sollen die Emissionen sogar um 55 Prozent reduziert und eine Klimaneutralität bis 2050 erreicht werden.

Ein neues Konzept für Paris

Der Stadtforscher Carlos Moreno Foto: Lorenzo Hernandez / picture alliance

Die 15-Minuten-Stadt basiert auf dem Konzept des kolumbianisch-französischen Urbanisten Carlos Moreno, der an der Sorbonne lehrt und – wie er es in einem Interview formulierte – «seit vielen Jahren über radikale Veränderungen nachdenkt, die angesichts des Klimawandels unternommen werden müssen». Schließlich seien Städte für mehr als 60 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Morenos Ansatz ist es, Autofahrten durch eine stärkere Durchmischung der Quartiere überflüssig zu machen: «Die 15-Minuten-Stadt will eine Stadt fördern, in der nahe gelegene Dienstleistungsangebote das Leben der Bürger erleichtern», erklärte Moreno Anfang 2022 gegenüber Euronews. Er plädiert für eine urbane Stadtstruktur, in der die häufigsten Ziele des Alltags innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen sind: Wohnen, Arbeiten, Einzelhandel, Gesundheit, Bildung und Freizeit.

Bei der konkreten Umsetzung will die Pariser Bürgermeisterin für ebendiese Durchmischung sorgen, mit dem Fokus auf den Einzelhandel sowie auf Kultur- und Freizeiteinrichtungen. Die Themen Mobilität und Nutzung des öffentlichen Raums stehen bei Hidalgo ebenfalls im Vordergrund.

Der wachsende Online-Handel sowie die Coronapandemie trafen den Pariser Einzelhandel hart: Über 900 kleine Ladengeschäfte mussten zwischen 2017 und 2020 schließen. Gleichzeitig nahm die Zahl der Online-Lieferdienste zu, was nicht nur eine starke Konkurrenz für die Geschäfte darstellte, sondern auch dazu führte, dass leer stehende Ladenflächen in den Erdgeschossen immer häufiger als Lager genutzt wurden. Im Zuge der Umgestaltung soll der lokale Einzelhandel besser geschützt und gefördert werden.

Neue Räume für Freizeit und Grün schaffen

Paris gehört mit rund 21.000 Einwohnern je Quadratkilometer zu den am dichtesten besiedelten europäischen Großstädten. Zum Vergleich: In München leben auf derselben Fläche im Schnitt 4.800 Menschen, und in Berlin nur 4.330 Menschen. Der Wohnungsbestand in der französischen Hauptstadt umfasst dabei mehrheitlich kleine Apartments mit zwei oder weniger Zimmern. Die geringen Wohnungsgrößen verlagern das soziale Leben in den Außenraum.

Zwar gibt es in Paris bereits zahlreiche Kultur-, Freizeit- und Bildungsangebote, dennoch fehlen ausreichend Grünräume und Sportflächen für die Stadtteilbewohner. Daher ist auch die Einrichtung neuer Parks und Freizeitangebote eine von Hidalgos Maßnahmen, wie etwa im «Bassin de la Villette»: Ein Abschnitt des auf Napoleon zurückgehenden künstlichen Gewässers wurde 2017 um eine schwimmende Badeanlage erweitert.

Öffentliche Gebäude stehen zwei Drittel der Zeit praktisch leer.

Prof. Carlos Moreno, wissenschaftlicher Direktor des «Institut d’administration des entreprises» an der Sorbonne

Durch die hohe Bebauungsdichte mangelt es in Paris an Flächen für neue Freizeitangebote und Parks. Carlos Moreno schlägt daher vor, bereits bestehende Einrichtungen hinsichtlich ihrer Auslastung zu prüfen und neue Konzepte für bislang nur teilgenutzte Räume zu entwickeln. «In Paris liegt die durchschnittliche Auslastung von öffentlichen Gebäuden zwischen 30 und 40 Prozent, was bedeutet, dass sie zwei Drittel der Zeit praktisch leer stehen», so Moreno. Als Beispiel führt er die Mehrfachnutzung von Schulen an, konkret von Schulhöfen, die am Wochenende als Freizeitanlage für die Nachbarschaft geöffnet werden könnten. Erste erfolgreiche Versuche gab es diesen Sommer bereits.

Die Bürgermeisterin von Paris in sommerlicher Kleidung im Gespräch mit Bürgern.
Anne Hidalgo, 2022 bei der Eröffnung der «Paris Plages»: Wege längst der Seine werden temporär zu Stadtstränden umgestaltet. Foto: Michel Christophe / picture alliance

Mobilität und öffentlichen Raum versöhnen

Um Emissionen und Feinstaubbelastung zu reduzieren, will Anne Hildalgo nicht nur im Umfeld von Schulen, sondern auch im großen Stil Straßenraum für den Autoverkehr einschränken, ihn fußgängerfreundlicher gestalten und begrünen. Erst vor Kurzem gab sie bekannt, die Champs-Élysées und den Vorplatz der Kathedrale Notre-Dame weitgehend vom Autoverkehr zu befreien und damit neue Räume zum Verweilen zu schaffen.

Auch der Radverkehr erlebt eine Renaissance: Während der Pandemie ließ die Bürgermeisterin im Stadtzentrum zahlreiche Radspuren einrichten. Heute erreicht man mit dem Rad, geschützt durch Poller, auf der Rue de Rivoli in beiden Richtungen den Place de Bastille und den Place de la Concorde. Bis 2026 will man 180 Kilometer gesicherte Radwege und über 120.000 zusätzliche Fahrradstellplätze schaffen. Dafür sollen 60.000 Pkw-Parkplätze im öffentlichen Raum wegfallen. Um den Rad- und Fußverkehr zu schützen und die Lärmbelastung zu reduzieren, führte Hidalgo Ende August 2022 in fast allen Straßen der Stadt Tempo 30 ein. Davon ausgenommen blieben nur die Ringautobahn sowie einige große Verkehrsachsen.

Auf einer großen Straße in Paris ist die Hälfte der Fahrbahn für Fahrräder abgesperrt.
Während der Pandemie ließ die Bürgermeisterin im Stadtzentrum zahlreiche Radspuren einrichten. Foto: Berzane Nasser / picture alliance
Am Ufer der Seine sind im Sonnenschein viele Fußgänger und Radfahrer unterwegs.
Freiräume für Menschen: Spaziergänger, Jogger, Radfahrer und Boule-Spieler auf der «Voie Georges Pompidou». Foto: Laetitia d'Aboville
Eine ehemalige Bahnstrecke in der Stadt ist begrünt und begehbar.
«La Petite Ceinture»: Die verwilderte Trasse der ehemaligen Ringeisenbahn wird Stück für Stück öffentlich zugänglich gemacht. Foto: Laetitia d'Aboville

An wen richtet sich die 15-Minuten-Stadt?

Kritiker wie der in den USA lehrende Stadtplaner Alain Bertaud werfen Anne Hidalgo und Carlos Moreno vor, Paris sei längst eine 15-Minuten-Stadt. «Moreno möchte eine neue Art von Urbanismus erfinden, wo sich die Menschen wirklich begegnen und zum Bäcker laufen können? Die gute Nachricht ist: Diese Stadt gibt es schon, sie heißt Paris!», stellt er in einer politischen Analyse im Januar 2022 fest. Seine Polemik stimmt nur zum Teil: Zwar erreichen 80 Prozent der Bevölkerung innerhalb von fünf Minuten die drei wichtigsten Geschäfte des täglichen Bedarfs zu Fuß, wie etwa eine Bäckerei, eine Apotheke oder einen Kiosk. Dennoch ist unbestreitbar, dass das darüber hinausgehende Angebot in den Stadtteilen oft nicht mehr vielfältig genug ist und der lokale Einzelhandel stark unter Druck steht.

Ein anderer Punkt, der zu Kritik in der Bevölkerung führt, ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Viele Menschen können sich die Mieten in Paris nicht mehr leisten und sind gezwungen, aus der Stadt in den angrenzenden Großraum umzuziehen. Für die Anmietung einer Wohnung muss in der Regel ein Einkommen in Höhe der dreifachen Miete nachgewiesen werden. Ein schwieriges Unterfangen – insbesondere für Alleinerziehende. Paris plant daher, den Bestand der Sozialwohnungen bis 2025 von derzeit 255.000 auf rund 300.000 Stück zu erhöhen.

Ein Blick nach Europa

Auch andere europäische Städte müssen ihre Stadtplanung neu ausrichten – schließlich sind sie ebenso in der Pflicht, das Pariser Klimaabkommen einzuhalten und die gesetzten Ziele zu erreichen. Und nicht nur in Paris steht die Reduktion des Autoverkehrs im Fokus, wie Beispiele aus Oslo und Madrid zeigen: In der norwegischen Hauptstadt wurde 2015 das Projekt «Bilfritt byliv», das «autofreie Stadtleben», vorgestellt. Seit Projektstart im Jahr darauf sind rund 760 Straßenparkplätze im Innenstadtbereich umgewidmet worden. Einige dienen nun der Anlieferung von Waren oder als Behindertenparkplätze, andere wurden ganz abgeschafft, ihre Flächen begrünt und mit Sitzgelegenheiten ausgestattet.

In Madrid initiierte 2018 die damals amtierende Bürgermeisterin Manuela Carmena das Projekt «Madrid Central». Die Großstadt hatte damals noch mit den europaweit höchsten Schadstoffemissionen zu kämpfen, weshalb seit dem Projektstart 2019 weder Dieselfahrzeuge noch Benziner, die vor 2000 zugelassen wurden, in die Innenstadt einfahren dürfen. Darüber hinaus führte man im gesamten Stadtgebiet – für alle Straßen mit nur einer Fahrspur pro Richtung – Tempo 30 ein.

15-Minuten-Stadt vs. Stadt der kurzen Wege

Und wie sieht es hierzulande aus? «Letztendlich handelt es sich beim Konzept der 15-Minuten-Stadt um das, was wir schon lange unter der ‹Stadt der kurzen Wege› kennen», sagt Anne Klein-Hitpaß, Leiterin der Forschungsabteilung Mobilität am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu). Dieses städtebauliche Leitbild existiert in der Bundesrepublik bereits seit den 1990er-Jahren. Zuletzt wurde es 2020 erneut in die «Neue Leipzig-Charta» aufgenommen, dem aktuellen Leitdokument, das die Grundlagen für die deutsche und europäische Stadtentwicklungspolitik festsetzt. Bei der Stadt der kurzen Wege geht es, ähnlich wie bei der 15-Minuten-Stadt, darum, die Viertel so weit in ihrer Nutzung zu durchmischen, dass die alltäglichen Aufgaben ohne Auto erledigt werden können. Doch konkrete Maßnahmen, wie sie in Paris aus dem Konzept von Carlos Moreno erarbeitet worden sind, wurden im Hinblick auf die Stadt der kurzen Wege bislang nicht abgeleitet.

München ist die am dichtesten bewohnte Stadt Deutschlands. Besitzt sie die Qualitäten einer 15-Minuten-Stadt? «In einigen Aspekten schon, gerade was die öffentlich organisierten Einrichtungen betrifft. Kindergärten und Grundschulen sind sehr gut über die Stadt verteilt», sagt Ulrike Jehle, Geschäftsführerin des Start-ups «Plan4Better». Gemeinsam mit zwei Kollegen hat sie das interaktive Webtool «Goat» entwickelt, das Städten und Kommunen helfen soll, stadtplanerische Entscheidungen auf Grundlage detaillierter Daten und deren Analyse zu treffen, um 15-Minuten-Städte zu planen.

 

Vor einer Großbaustelle hält einer Frau ein ipad mit einem Stadtplan ins Bild.
Die Planungssoftware «Goat» ermöglicht es, für Neubauten wie Schulen und andere öffentliche Einrichtungen einen möglichst schnell zu Fuß oder per Rad erreichbaren Standort zu finden. Foto: Lena Engel

Neben München und Freiburg arbeitet das Start-up mit London, Amsterdam und Gent zusammen. Grundlage für die Auswertung bildet der Crowdsourcing-Datensatz von OpenStreetMap. «Wir reichern diese Informationen dann mit weiteren Datensätzen an, die uns von den Städten zur Verfügung gestellt werden.» Diese beinhalten etwa die Standortdaten von Kindergärten, Schulen oder Bikesharing-Stationen, auf deren Basis sich Erkenntnisse hinsichtlich der Erreichbarkeit ableiten lassen: Wie weit haben es Anwohner bis zum nächsten Supermarkt? Welcher Bikesharing-Standort eignet sich am besten, um möglichst vielen Menschen den kürzesten Weg dorthin zu ermöglichen? Wie gut ist jeweils die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr? Durch diese Untersuchungen wird eine Grundlage für sinnvolle Maßnahmen geschaffen, die den Ansprüchen möglichst vieler möglichst gut entsprechen.

Autos werden in Deutschland auf vielfache Art und Weise subventioniert.

Anne Klein-Hitpaß, Leiterin der Forschungsabteilung Mobilität am Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin

Eine besonders gute Anbindung an Bus, Tram und Bahn haben die Bewohner im Zentrum des Münchener Stadtteils Haidhausen. Seit den 1980er-Jahren wird das dicht bebaute Gründerzeitquartier, das zwischen den beiden S-Bahnhöfen Rosenheimer Platz und Ostbahnhof liegt, saniert und aufgewertet. Unterhalb der Wohnetagen reihen sich im Erdgeschoss Cafés und Restaurants, Supermärkte, kleine Buchhandlungen und Bekleidungsgeschäfte aneinander. Ausstellungs- und Kulturorte, Schulen, Kitas und Büros ergänzen das Angebot. Die Isar ist nur wenige hundert Meter entfernt, die Außenflächen der Cafés und Restaurants in der Fußgängerzone am Weißenburger Platz sind stark besucht. Gleichzeitig sind die Straßen komplett zugeparkt, der Autoverkehr drängt sich dazwischen dicht an dicht.

Weshalb wird ein so gut erschlossenes und zentral gelegenes Quartier wie Haidhausen derart stark mit Verkehr belastet? «Autos werden in Deutschland auf vielfache Art und Weise subventioniert, wie etwa durch das Dienstwagenprivileg oder die Entfernungspauschale», so Anne Klein-Hitpaß. «Wenn wir betrachten, wie sich die Preise für Bahntickets und den öffentlichen Nahverkehr in den letzten zehn Jahren entwickelt haben, und dann die Kosten für die Kfz-Anschaffung plus Unterhalt vergleichen, so fallen die Preissteigerungen im privaten Autoverkehr geringer aus als bei anderen Verkehrsarten.» Hinzu kommt der kostenlose Parkraum. «Menschen können ihr Auto oft einfach vor der Tür parken, und müssen keinen Stellplatz nachweisen.»

Wird der öffentliche Raum zu günstig angeboten? «Eindeutig ja! Der öffentliche Raum hat einen Wert. Dieser Wert kommt in den vielerorts kostenfreien oder sehr günstig bepreisten Parkplätzen schlicht nicht zum Ausdruck. Solange es immer genug Stellplätze für wenig Geld gibt und es bequem ist, ein Auto zu haben, werden die Leute weiter Auto fahren.» Rund 31 Euro zahlt man pro Jahr im Durchschnitt für einen Anwohnerparkausweis in Deutschland. Zum Vergleich: In Amsterdam sind es jährlich 583 Euro, in Stockholm sogar 827 Euro.

Eine junge Frau steht auf einem sommerlichen, mit Blumen bepflanzten Platz.
Ulrike Jehle, Geschäftsführerin des Start-Ups «Plan4Better», am Weißenburger Platz, einer grünen Oase im Münchener Stadtteil Haidhausen. Foto: Lena Engel

Raus aus der Bequemlichkeit

Für eine zukunftsfähige Verkehrsplanung sind laut Anne Klein-Hitpaß Push- und Pull-Maßnahmen notwendig: «Unter Pull-Maßnahmen versteht man Angebote, die attraktive Alternativen zum Auto bieten, wie eine gute Taktung im öffentlichen Nahverkehr, Bikesharing-Systeme, E-Scooter, Carsharing und Fahrradabstellanlagen. Pull-Maßnahmen funktionieren aber nur, wenn gleichzeitig Push-Maßnahmen implementiert werden, die die Nutzung des Autos weniger attraktiv machen.» Dazu gehöre beispielsweise ein gesamtstädtisches Parkraum-Management, das Parken verteuern würde. So greift seit 2020 eine neue Straßenverkehrsnovelle, laut der die Bundesländer die Preise für Parkausweise selbst festlegen dürfen. So sollen in Bonn ab März 2024 die Stellplätze 360 Euro kosten.

Eine neue Pull-Maßnahme kam während der Pandemie zustande, als Städte Pop-up-Radwege installierten, die teilweise in dauerhafte Radwege umgewandelt wurden. «Empirische Untersuchungen belegen ganz klar: Gibt es eine sichere Radverkehrsinfrastruktur, nutzen signifikant mehr Menschen das Fahrrad. Wenn zudem die Fußwege attraktiv, schön und grün gestaltet sind, sind die Leute eher bereit, zu Fuß zu gehen. Sie nehmen dann auch größere Distanzen gar nicht als so lange wahr», so Anne Klein-Hitpaß. «Städte müssen sich entscheiden: Welchen Verkehr wünschen sie sich? Und dafür ist dann der Platz zur Verfügung zu stellen.»

Trotz der Klimakrise und der bekannten Notwendigkeit, Emissionen zu senken, agieren Städte und Kommunen bei Veränderungen sehr zögerlich. Das müsse sich ändern, fordert Klein-Hitpaß: «Die Politik hat den Rahmen zu setzen, damit die Maßnahmen entweder umweltfreundliches Verhalten fördern oder umweltschädigendes Verhalten zunehmend sanktionieren. Und da geschieht bisher deutlich zu wenig.»

Treffpunkte für Menschen schaffen: Das ist mein Wunsch an eine 15-Minuten-Stadt.

Ulrike Jehle, Umweltingenieurin und Geschäftsführerin von «Plan4Better» in München

Eine Stadt kann nur funktionieren, wenn sie allen Menschen in gleicher Weise zur Verfügung steht. Ulrike Jehle wünscht sich mehr Teilhabe und grüne Freiräume mit Platz für Kinder, Erwachsene und Senioren. «Treffpunkte für Menschen schaffen: Das ist mein Wunsch an die 15-Minuten-Stadt.»

Anne Hidalgo sieht in der Veränderung einen Gewinn für das Klima und die Bevölkerung. Im Januar 2020 twitterte sie über die 15-Minuten-Stadt: «Es ist die Stadt der Nähe … Sie ist die Voraussetzung für die ökologische Transformation der Stadt und verbessert gleichzeitig das Leben der Pariser.»

Ob 15-Minuten-Stadt oder Stadt der kurzen Wege: Beide Konzepte setzen auf eine Stadtplanung, bei der es um die Verbesserung der Lebensqualität aller Bewohner geht. Sichtbar wird diese wiedergewonnene Lebensqualität auch in der Pariser Rue du Jourdain, wo an diesem sonnigen Oktobertag ein Mann entspannt auf einer Parkbank sitzt und in einem Buch liest. Die autofreie Fußgängerzone und die begrünten Pflanztröge haben den Ort ruhiger und zugänglicher gemacht.

Im Münchener Stadtteil Haidhausen prägen dagegen die parkenden Autos noch immer das Straßenbild. Doch gibt es mittlerweile ein erstes Vorhaben, daran etwas zu ändern: Auch die Verbindungsstraße zwischen Pariser und Weißenburger Platz wird im Frühjahr 2023 zu einer begrünten Fußgängerzone umgewandelt. Ein kleiner Schritt nach vorne – immerhin.

 

Titelbild: Jardin Truillot und Saint Ambroise Kirche, Paris / Foto: Laetitia d'Aboville

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19. Dezember 2022 | Energiewende-Magazin