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Mensch Raiffeisen!

Werner Böhnke, Vorsitzender der Raiffeisen-Gesellschaft, im Gespräch mit Tom Jost

200 Jahre nach Raiffeisens Geburt ist seine genossenschaftliche Idee ein wichtiger Wegweiser für gemeinschaftliches und nachhaltiges Wirtschaften.

Herr Böhnke, die Genossenschaftsidee hat eigentlich mindestens zwei Väter: Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Weshalb feiern wir in Deutschland gerade «nur» ein Raiffeisen-Jahr?

Am 30. März 1818 wurde Raiffeisen geboren, würde also in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag feiern können. Das nimmt die Deutsche Raiffeisen-Gesellschaft zum Anlass, an das Leben und Werk von Raiffeisen zu erinnern und seine Ideen in die öffentliche Diskussion zu tragen. Wir erwähnen aber an vielen Stellen, dass es auch einen weiteren bedeutenden Begründer in Deutschland gab – Hermann Schulze-Delitzsch. Beide haben sich um die Genossenschaftsidee verdient gemacht.

Raiffeisen war Verwaltungsbeamter, als er im Westerwald bei einer Vereinsgründung «zur Selbstbeschaffung von Brod und Früchten» Pate stand. Heute würde man sagen, das war eine lokale Tafel.

Das wäre ein wenig zu kurz gesprungen, denn Raiffeisen ging es eigentlich immer um mehr. Im Mittelpunkt seiner lebenspraktischen Ansätze stand stets die Überzeugung, den Menschen den Wert und die Bedeutung von Selbstvertrauen und Selbstverantwortung näherzubringen. Er wollte die Menschen befähigen, die Dinge in die Hand zu nehmen. Sie sollten keine Fürsorgeempfänger sein oder bleiben, sondern selbst gestalten, kreativ werden und ihre Aufgaben meistern. Deswegen war Raiffeisen auch das Thema Bildung so wichtig – weil er erkannt hatte, dass Bildung eine der zentralen Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben ist.

Eine «Tafel» als reine Wohltätigkeit, als «Charity», war ihm zu wenig?

Wir haben das in unserer Kampagne in ein schönes Bild gekleidet: «Er verteilte kein Brot, er baute ein Backhaus.» Und dieses Bild verdeutlicht die Bedeutung von Freiheit und Selbstbestimmung – beides rangiert vor Fürsorge. Den Menschen sollte auch vermittelt werden, dass man sie braucht und dass sie mehr zuwege bringen können, als sie sich selbst oder andere ihnen zutrauen. Raiffeisen war es wichtig aufzuzeigen, wie Menschen an sich arbeiten und sich entwickeln können.

Eine Idee, deren Zeit gekommen war

Werner Böhnke im Gespräch
Foto: Marc Eckardt

«Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun», heißt es in dem bekanntesten Lied aus jener Zeit. Das ist «Die Internationale».

Ja, aber Raiffeisen hat nie das System infrage gestellt. Umsturzideen waren nicht seine Sache. Es ging ihm um die Interessen von Menschen, die in Not geraten waren – nicht um eine Klasse. Er hat sich an konkreten Lebenssachverhalten orientiert, die Realität war ihm stets wichtiger als ein kühnes Gedankengebäude. Er stand, wie man so schön sagt, mit beiden Beinen im Leben. Der Genossenschaftsgedanke und das, was Raiffeisen vorangebracht hat, war keine Revolution, aber bleibt bis heute eine revolutionäre Idee.

Der Mensch muss essen und ein Dach über dem Kopf haben. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass Genossenschaften in den letzten 150 Jahren vor allem hier entstanden sind?

Wenn wir genau hinschauen, dann begegnen uns heute Genossenschaften in nahezu allen Bereichen der Wirtschaft: von der Agrar- über die Wohnungs- bis zur Zweiradgenossenschaft. Oder von der Apotheker- über die Kredit- bis zur Zuckerrübengenossenschaft. Wir beobachten sie breit aufgestellt und überall dort, wo Menschen ein gemeinsames Ziel entdeckt haben.

Konsumgenossenschaften haben an Bedeutung verloren. Aber wie sähen unsere Städte heute ohne Wohnungsgenossenschaften aus?

Ich glaube, sie spielen eine ganz bedeutende Rolle in der Bundesrepublik – nicht von allen und überall so wahrgenommen und erkannt. Um mit Zahlen zu sprechen: Wir haben über 2.000 Wohnungsgenossenschaften in Deutschland, mit 2,2 Millionen Wohnungen. Darin wohnen mehr als 5 Millionen Menschen. Eine Entwicklung, die noch lange nicht an ihr Ende gekommen ist, auch weil die Menschen hier Mieter und Eigentümer in einer Person sind. Auf der Angebotsseite spielen Genossenschaften in den Ballungsräumen eine bedeutende Rolle. Sie nehmen zu Recht für sich in Anspruch, wettbewerbsfähig zu sein.

Der Grundsatz heißt: selbstbestimmt, selbstverantwortet, selbstverwaltet. Reicht das, um sich an Märkten zu behaupten, deren Akteure mit Geld und Kompetenzen oft viel besser ausgerüstet sind?

Im kreditwirtschaftlichen Sektor finden wir zum Beispiel viele selbstständige und überschaubare Institute, die im regionalen Rahmen agieren. Für die Finanzkrise, die wir vor zehn Jahren verkraften mussten, waren die Volks- und Raiffeisenbanken nicht verantwortlich. Sie haben sich vielmehr in dieser Krise großartig behauptet und zählen zu einer stabilen Säule der Finanzwirtschaft. Über Erfolg und Misserfolg entscheiden aber nicht nur Größe, sondern Kreativität und Beweglichkeit, Kompetenz und Schnelligkeit.

Die Garantie für eine ansehnliche Dividende ist das allerdings noch nicht.

Eine Dividende ist immer die faire Teilhabe am Unternehmenserfolg. Jeder weiß, dass es keine Konstante gibt im ökonomischen Erfolg, sondern dass dieser aus unterschiedlichsten Gründen Schwankungen unterliegt.

 

Portrait Werner Böhnke
Foto: Marc Eckardt

Die kleinen Schiffe sind beweglicher als die großen Tanker.

Werner Böhnke, Vorsitzender der Raiffeisen-Gesellschaft

Die meisten der rund 8.000 Genossenschaften in Deutschland bestehen schon 40 Jahre oder länger. Heißt das, dass dieses Selbstorganisationsmodell im 21. Jahrhundert an Strahlkraft verloren hat?

Ganz im Gegenteil: Ihre Feststellung ist doch Ausdruck großer wirtschaftlicher Stabilität. Aussagekräftiger ist aber eine andere Zahl: Derzeit sind 22,6 Millionen Menschen Mitglied in einer Genossenschaft – mit positiver Entwicklung seit vielen Jahren. Im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Organisationen wachsen Genossenschaften, sie wachsen seit Jahrzehnten. Und es gibt viele Neugründungen.

Genossenschaften im Aufwind

Diese Neugründungen finden sich vor allem im Bereich der Bürgerenergie: Wie überrascht war man bei der Raiffeisen-Gesellschaft über 800 junge Genossenschaften?

Überrascht vielleicht nicht – aber erfreut, weil sich hier Menschen gleichberechtigt und partnerschaftlich auf ein gemeinsames wirtschaftliches Ziel ausgerichtet haben. Das ist eine tolle Entwicklung. Die Mitglieder der Energiegenossenschaften übernehmen mutig und couragiert Verantwortung und zeigen, wie konkret der Beitrag des Einzelnen zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit aussehen kann.

Das zentrale Anliegen jener derzeit fast 1.000 Bürgerenergiegenossenschaften ist ja die Energiewende und – wie damals bei Raiffeisen – die Erkenntnis: Wenn wir nichts tun, tut’s keiner.

Wir können beobachten, dass die Bürger in beeindruckender Weise Eigeninitiative übernommen haben – so wie damals. Und sie leisten einen bemerkenswerten Beitrag auf dem Weg zu jenen Zielen, auf die sich unsere Gesellschaft jedenfalls mehrheitlich verständigt hat.

Immerhin waren die Bürger damit erfolgreicher, als Bundesregierung und Stromkonzerne es ertragen konnten.

Das zeigt, welche Kraft eine bürgerliche Initiative entfalten kann. Ich glaube nicht, dass sich die Bundesregierung damit schwertut – da habe ich eine andere Wahrnehmung.

Da gäbe es noch ein paar große gesellschaftliche Herausforderungen mehr: Finanzwirtschaft, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeitsfragen.

Als Raiffeisen-Gesellschaft haben wir eine Botschaft, die uns in diesem Jubliäumsjahr besonders am Herzen liegt. Da geht es um Solidarität, Gemeinschaft und Gerechtigkeit, um Respekt, Fairness und Anstand im wirtschaftlichen Wirken. Auch müssen wir in unserer Gesellschaft offen, ehrlich und durchaus leidenschaftlich darüber diskutieren, wie wir eine neue Balance zwischen Fördern und Fordern, zwischen Geben und Nehmen, zwischen Rechten und Pflichten erreichen. Hier haben Genossenschaften sicher manches in die Debatte einzubringen. Das wird auch eine Aufgabe der Raiffeisen-Gesellschaft sein.

Wo sind denn Genossenschaften Ihrer Meinung nach heutzutage besonders gefordert?

Ein Thema, das wir nahezu täglich wahrnehmen, ist die Digitalisierung. Neue Formen der Arbeitsteilung und des gemeinsamen Wirtschaftens entstehen. Genossenschaften können hier eine Rolle spielen, indem sie für die Bearbeitung komplexer Themen der Digitalisierung Kreativzentren bilden. Unternehmen verbinden sich, um große Herausforderungen gemeinsam anzugehen.

Zum 200. Geburtstag bitte ein Blick in die Kristallkugel: Wo wird uns Raiffeisen demnächst vielleicht unvermutet begegnen?

Zukunft ist ein unbekanntes Land. Wir beobachten gerade beispielsweise im karitativen Bereich Entwicklungen zu Pflegeverbünden oder Ärzte-Organisationsformen, bei denen Genossenschaften den Rechtsmantel bilden. Das sind ganz wichtige Herausforderungen. Dazu kommen kreative und kulturelle Bereiche, so werden bereits heute einige Kinos genossenschaftlich betrieben. Wichtig ist, dass man offen und freudig auf dieses unbekannte Land zugeht. «Mensch Raiffeisen. Starke Idee» – in diesem Sinne freuen sich Genossenschaften auf die Zukunft.

 

Werner Böhnke in der DZ-Bank

Insbesondere im genossenschaftlichen Geldwesen kennt sich Werner Böhnke bestens aus: Nacheinander gehörte er drei Vorständen regionaler Volksbanken an, bevor ihn die Westdeutsche Genossenschafts-Zentralbank 1997 in ihre Chefetage holte. An deren Fusion mit der DZ-Bank 2016 zur Zentralbank für 1.000 Kreditgenossenschaften war Böhnke als Aufsichtsrat maßgeblich beteiligt. Mit der Deutschen Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft – ihr Sitz ist in Hachenburg im Westerwald – erinnert er in diesem Jahr in mehr als 20 Veranstaltungen an den berühmten Namensgeber.

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28. März 2018 | Energiewende-Magazin