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Wer profitiert von neuen Stromtrassen?

Ein Essay von Bernward Janzing

Vom Ausbau des Höchstspannungsnetzes wird vor allem die Kohle profitieren. Ein neues Marktmodell könnte das ändern.

Einfache Wahrheiten haben es in der politischen Debatte natürlich leichter als komplexe Zusammenhänge. So ist es auch bei den Stromnetzen. Unstrittig ist: Der Windstrom wird überwiegend in Norddeutschland erzeugt, während die Großverbraucher sich vor allem im Ruhrgebiet und im Süden der Republik befinden. Da klingt es allzu plausibel, dass man neue Hochspannungsleitungen braucht, die den Windstrom in den Süden bringen.

Dennoch ist das nur ein Teil der Wahrheit, die ganze Wahrheit ist vielschichtiger. Und deswegen sehen Kritiker hinter den vielen Plänen zum Bau neuer Hochspannungstrassen eine ganz andere Motivation – nämlich vor allem das Bestreben, die Kohlekraftwerke im nördlichen Teil der Republik am Netz halten zu können. Speziell die Kohlekraftwerke in der Lausitz in Ostdeutschland könnten ihren Strom bald nicht mehr los werden, würden weitere Windräder im Norden gebaut, aber keine Leitungen in den Süden.

Netze für die Kohle der Lausitz

Deswegen ist vor allem die sogenannte Süd-Ost-Trasse zwischen Sachsen-Anhalt und Bayern in der Kritik. Der Energieexperte Christian von Hirschhausen, Professor an der TU Berlin, hatte bereits vor zwei Jahren geurteilt, die Süd-Ost-Passage sei «für die Einspeisung von möglichst viel Braunkohlestrom bei Hochwind ausgelegt». Zu diesem Ergebnis kämen Modellrechnungen. Somit diene die Trasse «nicht der Versorgungssicherheit in Süddeutschland, sondern der Maximierung der Exporte von Braunkohlestrom aus Mitteldeutschland und der Lausitz». Sie sei gar «für die Energiewende schädlich». Ähnlich urteilt Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung.

 

Porträt Prof. Dr. Claudia Kemfert
Claudia Kemfert Foto: Oliver Betke

Vor allem die umstrittene Leitung von Sachsen-Anhalt nach Bayern ist in erster Linie für Kohlestrom aus Ostdeutschland konzipiert.

Prof. Dr. Claudia Kemfert

Werde der Kohlestrom nicht produziert, so Claudia Kemfert, werde auch die Leitung nicht gebraucht. Die Ökonomin will das nicht alleine auf diese Trasse bezogen sehen. In einem Interview sagte sie im vergangenen Jahr auch: «Unsere Modellrechnungen zeigen, dass mit dem derzeitigen Stromnetz auch ohne Netzerweiterung eine sichere Stromversorgung in ganz Deutschland möglich ist.» Voraussetzung dafür sei allerdings, dass die Kohleverstromung deutlich reduziert wird.

Kohlekraftwerke an der Küste verstopfen das Netz

Blick auf das Steinkohlekraftwerk Moorburg, Hamburg-Moorburg
Steinkohlekraftwerk Moorburg in Hamburg-Moorburg Foto: Ajepbah / Wikimedia Commons

Man muss sich nur anschauen, an welchen Standorten in Deutschland heute noch Kohlekraftwerke betrieben werden. Einige stehen zum Beispiel in Hamburg und Bremen, in Kiel, Wilhelmshaven und Wedel – also exakt dort, wo im Umland auch Windstrom in großen Mengen erzeugt wird. Zum Teil sind die Kraftwerke sogar noch recht jung, wie zum Beispiel das hochumstrittene Steinkohlekraftwerk Hamburg-Moorburg, das 2015 in Betrieb ging, oder ein Block in Wilhelmshaven aus dem selben Jahr.

Die Leistungen der Anlagen sind beträchtlich. Allein die beiden Blöcke in Moorburg kommen zusammen auf 1.600 Megawatt. Eine ähnliche Kapazität haben in der Summe die beiden Kohlekraftwerke in Wilhelmshaven. Zugleich sind nun Leitungen geplant, die jeweils 2.000 Megawatt in den Süden bringen sollen: von Brunsbüttel nach Baden-Württemberg und von Wilster nach Bayern. Jedes abgeschaltete Kohlekraftwerk an der Küste würde Platz machen im Hochspannungsnetz für Windstrom.

Strommarkt sieht Deutschland als Kupferplatte

Doch die Politik wagt sich an die Kohle noch nicht so recht heran. Zugleich fehlen Marktanreize, die Kohlekraftwerke an ungünstigen Standorten unter Druck setzen. Das liegt schlicht daran, dass der deutsche Strommarkt so organisiert ist, als sei das Land eine Kupferplatte, als könne jede erzeugte Kilowattstunde jederzeit problemlos an jeden Punkt des Landes transportiert werden. Das führt am Ende zu hohen Kosten bei der Ausregelung.

Ein praktisches Beispiel: Ein Braunkohlekraftwerk in Ostdeutschland will Strom an einen Industriebetrieb in Bayern verkaufen. Also verhandeln beide Akteure, und wenn die Preisvorstellungen harmonieren, kommt das Geschäft zustande. Weder Anbieter noch Käufer des Stroms müssen sich darüber Gedanken machen, ob die Netzkapazitäten für den Energietransfer tatsächlich ausreichen.

Marktorganisation erfordert teuren Redispatch

Stellt sich zum Liefertermin dann heraus, dass das Netz den Strom nicht in dieser Menge zu transportieren vermag, müssen die Übertragungsnetzbetreiber eingreifen. Sie vollziehen einen so genannten Redispatch, einen nach der reinen ökonomischen Lehre marktwidrigen Eingriff: Sie weisen einen Stromerzeuger im Norden an, seine Leistung zu drosseln, obwohl dieser zuvor rechtsverbindliche Lieferverpflichtungen eingegangen ist. Im Gegenzug fordern sie Leistung von einem Kraftwerk im Süden an, das eigentlich gar nicht laufen sollte, weil der Strompreis zum betreffenden Zeitpunkt für einen wirtschaftlichen Einsatz dieser Anlage zu gering wäre.

In der Summe gleichen sich beide Eingriffe aus, durch die Verschiebung des Erzeugungsortes wird jedoch der Netzengpass kompensiert. Technisch ist das eine elegante Option, um das gesamte System auszutarieren. Nur kostet ein Redispatch Geld, auch wegen der Entschädigung für das Kraftwerk, das seinen Strom zwar verkauft hat, aber am Ende doch nicht liefern darf. Die Kosten dieser regulatorischen Eingriffe werden auf die Netzentgelte umgelegt und damit von allen Stromkunden getragen.

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Zwei Preiszonen als Option

Nun gibt es zwei Möglichkeiten, die Diskrepanz zwischen Marktmodell und physischem Netzzustand zu verringern. Zum einen kann man die Netze ausbauen. Mit jeder zusätzlichen Trasse kommt man dem Idealbild der Kupferplatte ein Stück näher. Aber Politik und Strommarktregulierer können auch den Strommarkt ein Stück an die physische Realität anpassen, indem sie zwei Preiszonen schaffen.

In diesem Fall ergibt sich für jede der beiden Zonen zu jedem Zeitpunkt ein individueller Strompreis. In Stunden, in denen die Transportkapazität zwischen den Zonen ausreicht, sind die Preise in beiden Netzabschnitten weiterhin identisch. In Stunden, in denen das nicht der Fall ist, bildet sich in der Überschusszone (typischerweise im deutschen Norden) ein niedrigerer Großhandelspreis als in der Mangelzone (im Süden).

Das führt aufgrund schlichter Marktlogik dazu, dass im Norden Kraftwerke vom Netz gehen, die ansonsten produziert hätten. Im Süden werden zusätzliche Anlagen aktiviert, die andernfalls gegen den Billigstrom aus dem Norden nicht hätten konkurrieren können. Es würde damit rein physikalisch betrachtet ähnliches geschehen, wie heute durch einen Redispatch – nur auf Marktbasis.

Sollten Preisdifferenzen zwischen Nord und Süd regelmäßig vorkommen, und sollten sie nennenswerte Beträge erreichen, könnte das Zwei-Zonen-Modell Investitionsentscheidungen von Erzeugern und Verbrauchern beeinflussen. Großverbraucher würden dann die billigere Zone bevorzugen, Stromerzeuger würden sich in der teureren ansiedeln.

«Wunderbares marktwirtschaftliches Instrument»

Weil es also durchaus Argumente für diesen Weg gibt, stellen einige Ökonomen das Dogma der einheitlichen deutschen Preiszone inzwischen in Frage. Sie denken darüber nach, Deutschland gemäß der faktischen Netzsituation zu spalten, orientiert an der Architektur des Stromnetzes. Ein Unterstützer dieser Idee ist seit Jahren Lorenz Jarass, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. 

 

Porträt Prof. Dr. Lorenz Jarass
Lorenz Jarass befürwortet das Zwei-Zonen-Modell Foto: Bert Bostelmann

Zwei Preiszonen wären ein wunderbares marktwirtschaftliches Instrument, um die jeweilige Versorgungslage in Nord-, wie Süddeutschland abzubilden.

Prof. Dr. Lorenz Jarass

 

Bei Einführung von zwei Preiszonen würde der Großhandelspreis in Deutschland in manchen Stunden in der Nord- und der Südzone differieren. Weil das aber immer nur zeitweise vorkommt, hätte das vermutlich wenig Auswirkung auf die jährliche Stromrechnung von Haushaltskunden.

Jarass ist davon überzeugt, dass zwei Preiszonen auch «sehr gut für die Energiewende» wären. Denn die in der Nordzone angesiedelten Braunkohlekraftwerke würden in Folge niedrigerer Marktpreise viel stärker unter Druck geraten, als sie es heute sind. Neue Leitungstrassen hingegen würden den Weiterbetrieb der Kohlekraftwerke ermöglichen, weil der Strom dann in den Süden abfließen kann. Fakt sei nämlich, dass die kritischen Leitungsbelastungen nicht durch erneuerbare Energien verursacht werden, sondern «durch die unnötige Einspeisung von Kohlestrom zeitgleich zu Starkwindeinspeisung.»

Netzbaukosten sind nicht das Hauptargument der Gegner

Entsprechend umstritten ist auch das Projekt SuedLink, ein vorwiegend vom Übertragungsnetzbetreiber Tennet geplanter Bau von Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungs-Leitungen (HGÜ) von der Elbmündung nach Bayern und Baden-Württemberg. Die Leitungen kosten zwar viel Geld, von zehn Milliarden Euro ist die Rede. Der Preis ist jedoch für die Bürgerinitiativen gar nicht der Hauptaspekt, der sie gegen das Projekt einnimmt.

Denn die Investitionen sollen über eine Nutzungsdauer von 40 Jahren abgeschrieben werden, womit sie pro Kilowattstunde gerade mit etwa einem Zehntel Cent zu Buche schlagen dürften. Ohnehin argumentiert die Stromwirtschaft, dass durch mehr Leitungen das Netzmanagement einfacher und kostengünstiger werde, weil der teure Redispatch damit zurückgehen könnte.

Das Kostenargument zieht auch deswegen kaum, weil das Höchstspannungsnetz nur einen marginalen Teil an der gesamten Stromrechnung ausmacht. Größeren Anteil haben neben Steuern und Abgaben die Kosten der Verteilnetze, der Marktpreis des Stroms im Großhandel sowie die Kosten von Systemdienstleistungen, wie das Ausregeln des Netzes, um ständig Gleichgewicht von Verbrauch und Erzeugung zu gewährleisten.

Gegner kritisieren Eingriff in Natur und Landschaft

Die Einwände der Bürger gegen die neuen Trassen sind viel grundsätzlicher. Sie kritisieren den Eingriff in die Landschaft (bei Freileitungen), und den Eingriff in die Natur (bei Erdkabeln). Vor allem aber sind auch sie vielfach davon überzeugt, dass die Neubautrassen mehr dem Fortbestand der Kohlekraftwerke und dem internationalen Stromhandel dienen, als dass sie für die Erneuerbaren Energien gebraucht werden. Und deswegen sagt auch Guntram Ziepel, Ingenieur und Sprecher des Bundesverbandes der Bürgerinitiativen gegen SuedLink: «Dass wir Suedlink für den Windstrom brauchen, ist eine fadenscheinige Argumentation.»

16. November 2016 | Energiewende-Magazin