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Wir trauern um Jochen Stay

Ein Nachruf von Sebastian Sladek

Mit Jochen Stay verlieren wir einen guten Freund, einen Wegbegleiter – und einen unerschütterlichen und mitreißenden Mitstreiter für eine atomkraftfreie Welt.

Fast drei Viertel aller Deutschen sprechen sich laut aktuellem Politbarometer gegen eine Förderung der Atomkraft durch die EU aus. Eine beeindruckende Zahl, mit der ich vor allem einen Namen verbinde: Jochen Stay. Hauptsächlich ihm und der von ihm mitgegründeten Organisation «.ausgestrahlt» haben wir es zu verdanken, dass die Gefahren der Atomkraft trotz des Ausstiegsbeschlusses 2011 im Gedächtnis der Gesellschaft nach wie vor präsent sind – ein Atomausstieg, für den Jochen laut und erfolgreich gekämpft hat. Doch nachdem dieser endlich beschlossen war, wurde es in den Medien und in der Öffentlichkeit still um das Atomthema. Jochen Stay aber blieb dabei und kämpfte unermüdlich weiter – mit Besonnenheit, Freundlichkeit und Klarheit.

Bereits als Jugendlicher war Jochen in der Anti-Atom-Bewegung aktiv, in den 1980er-Jahren hat er in Mutlangen gegen die dort von der US-Armee stationierten Atomraketen und in Wackersdorf gegen die geplante Wiederaufbereitungsanlage protestiert. Seitdem ist er nie müde geworden, für eine Zukunft ohne Atomenergie zu kämpfen – und für eine friedlichere Welt. Im Wendland, wo er lange lebte, war er eine der Schlüsselfiguren des Widerstands gegen das Atommüll-Endlager in Gorleben. Dass die Atompolitik der Bundesrepublik durch die entschlossenen und immer gewaltfreien Widerstandsaktionen von Zehntausenden Menschen gegen die Atommüll-Transporte zum Thema wurde und dadurch massiv in die Kritik geriet, ist zu großen Teilen sein Verdienst.

2008 gründete Jochen Stay mit Gleichgesinnten die bundesweit aktive Anti-Atom-Organisation «.ausgestrahlt». Sie wollten Atomkraftgegnerinnen und -gegner dabei unterstützen, ihre Haltung in politisch wirksamen Protest umzusetzen. Und diese Idee kam gerade rechtzeitig: Mit der 2009 aufkommenden Debatte um Laufzeitverlängerungen für AKWs brauchte es mehr denn je ein starkes Gegengewicht gegen die Atomlobby und die damals schwarz-gelbe Bundesregierung. Und .ausgestrahlt und Jochen Stay schufen dieses Gegengewicht: Plötzlich ging überall erneut die altbekannte rot-gelbe Anti-Atom-Sonne auf – auf Fahnen, an Jackenkragen und hinten auf den Autos. Mit einem Mal gab es wieder Demonstrationen gegen AKWs – und zwar gigantische: mit Hunderttausenden Teilnehmenden, mit 100 Kilometer langen Menschenketten und mit unzähligen landesweiten Mahnwachen, Protestkundgebungen und Aktionen. Plötzlich gab es sie wieder, die beinahe schon tot geglaubte Anti-Atom-Bewegung, – und zwar stärker als je zuvor.

Dass die Regierung Merkel dennoch die Verlängerung der Laufzeiten für die Atomkraftwerke verkündete, bremste Jochen Stay nicht, ganz im Gegenteil: Er arbeitete energisch weiter daran, den «Druck der Straße» zu steigern und nach Berlin ins Kanzleramt und in den Bundestag zu tragen. Mit Erfolg: Nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011 musste die Bundesregierung zurückrudern. Als Reaktion auf den anhaltenden Druck aus der Bevölkerung widerrief sie die Laufzeitverlängerungen und schaltete die acht ältesten Atomkraftwerke mit sofortiger Wirkung ab. Dem vorausgegangen waren Anti-Atom-Demonstrationen mit einer halben Million Menschen – maßgeblich organisiert von .ausgestrahlt.

Auch als der Atomausstieg endgültig besiegelt schien, war für Jochen der Kampf gegen die weiterhin und zum Teil heute noch laufenden Reaktoren lange nicht zu Ende. Er sah keinen Grund, die tägliche Bedrohung durch mögliche Störfälle zu ignorieren und das nach wie vor ungelöste Atommüllproblem den Atomkonzernen oder gar dem Kalkül der Interessenspolitik zu überlassen. Er und .ausgestrahlt begleiteten den politischen Diskurs, gaben den Atomkraftgegnerinnen und -gegnern eine starke Stimme und sorgten für Transparenz und Aufklärung. Wo nötig und sinnvoll, wurden Klagen geführt, Kampagnen entwickelt und gegen die Mauscheleien bei der Suche nach einem Atommüll-Endlager demonstriert. Jochen erinnerte wieder und wieder daran, dass die Bundesrepublik nach wie vor der zweitgrößte Produzent von Atomstrom in Europa ist und der Atomausstieg noch lange nicht umgesetzt – und blieb genau deswegen stets wachsam und aktiv.

Für Jochen mit seiner ruhigen, besonnenen und freundlichen Art stand dabei immer der gewaltfreie Widerstand, der offene Diskurs und die argumentative Kraft im Mittelpunkt. Er konnte überzeugen, inspirieren und mit seinem Witz und seiner Schlagfertigkeit Dinge auf den Punkt bringen – und er konnte feiern. So erlebten wir ihn auf unserem «Schönauer Stromseminar» Ende Juni 2015: Um Mitternacht haben wir auf das Abschalten des Atomkraftwerks Grafenrheinfeld angestoßen – und es wurde eine lange und ausgelassene Nacht. Jochen wurde tags zuvor von den Schönauer Energie-Initiativen und der Stadt Schönau als «Schönauer Stromrebell» geehrt.

Gemeinsam kämpften wir gegen das Atomprojekt Hinkley Point in Großbritannien und konnten Wochen später über 180.000 Beschwerdebriefe an die EU-Kommission in Brüssel übergeben. Bei vielen weiteren Kampagnen unterstützen wir uns gegenseitig und überlegten, wie wir den Kampf gegen Atomkraft in die nächste Generation und nach ganz Europa tragen konnten. 2020 haben .ausgestrahlt und wir die neue Kampagnenwebsite der Aktion «100 gute Gründe gegen Atomkraft» gestartet. Über viele Themen haben wir uns letztes Jahr ausgetauscht: wie es mit der Endlagersuche weitergeht, wie dem Versuch einer künstlichen Wiederbelebung der Atomkraft mittels der EU-Taxonomie zu begegnen ist und wie wir das Atomausstiegsjahr 2022 feiern können – das Jahr, das Jochen nur so kurz erleben durfte. Am 15. Januar ist er im Alter von 56 Jahren gestorben.

Wir vermissen ihn schmerzlich: seinen Rat, seinen Witz, seine Expertise, Freundlichkeit und Entschlossenheit. Er war nicht nur das Gesicht der Anti-Atom-Bewegung, sondern auch Vermittler, Stratege, Ideengeber: Er plante, initiierte und ermutigte, reiste durchs ganze Land und gab unzähligen Menschen den Mut und die Motivation, standhaft zu bleiben und für ihre Überzeugungen einzutreten. Und er war uns ein guter Freund.

Danke, Jochen!

 

Foto: Marc Eckardt

Spenden in Jochens Sinn

Unser tiefes Mitgefühlt gilt Jochen Stays Angehörigen und den Mitstreiterinnen und Mitstreitern von «.ausgestrahlt». Drei Organisationen war Jochen besonders verbunden. Spenden an diese wären in Jochens Sinn:

«.ausgestrahlt» und die von .ausgestrahlt initiierte «Stiftung Atomerbe»
• die «Bewegungsstiftung»
• die «Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V.»

19. Januar 2022 | Energiewende-Magazin