Direkt zum Inhalt der Seite springen

Hintergrund: Hinkley Point C

Ein Bericht von Constanze Wolk

Großbritannien setzt auf Atomstrom. Für den AKW-Neubau an der englischen Südwestküste will London tief in die Staatskasse greifen – mit Brüssels Segen.

Die Katastrophe im japanischen Fukushima könnte im Geschichtsbuch der europäischen Energiepolitik schon bald nur noch eine Marginalie sein. Denn mit den Plänen für «Hinkley Point C» läutet Großbritannien – im Schulterschluss mit Frankreich – unbeirrt eine neue Ära der Atomenergie in Europa ein: Im März 2013 genehmigte die britische Regierung den Bau zweiter Druckwasserreaktoren im südenglischen Somerset. Im Oktober 2013 war der Vertrag mit dem zu rund 85 Prozent dem französischen Staat gehörenden Energieversorger Électricité de France (EDF) unterschriftsreif. Das Atomkraftwerk an der Südwestküste Englands soll auch nur der erste einer Reihe von Reaktor-Neubauten auf der Insel sein. Pläne für weitere Atommeiler in Sizewell und Bradwell an der Ostküste liegen schon in der Schublade.

Atomstrom durch Milliarden-Subvention

Die Finanzierung von Hinkley Point C durch staatliche Förderungen ist ein Novum. Der Deal umfasst nicht nur eine Kreditgarantie in Höhe von mehr als 20 Milliarden Euro zur Absicherung der Baukosten. Kräftig zuzahlen will London auch während der geplanten 60-jährigen Betriebszeit. Kompensationszahlungen – sollte das AKW «politisch motiviert» abgeschaltet werden, also im Fall eines britischen Atomausstiegs – sind da nur ein Sahnehäubchen. Denn garantiert wird ein mit elf Cent pro Kilowattstunde (kWh) vergleichsweise hoher Abnahmepreis für den in Hinkley Point C produzierten Atomstrom. Dies über 35 Jahre, plus Inflationsausgleich.

Konservativ hochgerechnet mit einer Inflationsrate von zwei Prozent macht das eine Vergütung von 22 Cent pro kWh im letzten Förderjahr. Zum Vergleich: Eine große Photovoltaik-Anlage erhält in Deutschland über das Erneuerbare-Energien-Gesetz  derzeit eine Vergütung von rund acht Cent pro kWh – 20 Jahre lang, ohne Inflationsausgleich.

EU-Kommission bewilligt staatliche Förderungen

Der Fall Hinkley Point C dürfte ein deutliches Indiz dafür sein, dass der AKW-Neubau ohne milliardenschwere Förderungen vollkommen unwirtschaftlich ist und unter marktüblichen Bedingungen nicht realisiert würde. Kaum verwunderlich also, dass der ehemalige deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger den Garantievertrag für EDF schlicht als «sowjetisch» bezeichnete. Im Dezember 2013 leitete die EU-Kommission ein «förmliches Prüfverfahren» ein, da sie die «Vereinbarkeit mit den Vorschriften über staatliche Beihilfen stark anzweifelte». Anfang Oktober 2014 dann die überraschende Kehrtwende: Brüssel genehmigte die britischen Beihilfen. Die Entscheidung fiel kurz vor Mandatsende der damaligen EU-Kommission – das Geschenk an die Atom-Industrie war damit eine ihrer letzten Amtshandlungen.

Bürger und Nachbarländer reagieren

Im November 2014 legten die Elektrizitätswerke Schönau Beschwerde wegen «Genehmigung wettbewerbsverfälschender staatlicher Beihilfen» ein. Der bürgereigene Energieversorger konnte rund 180.000 Mitstreiter mobilisieren, sich anzuschließen. Greenpeace Energy reichte im Juli 2015 zusammen mit neun anderen Ökostromanbietern und Stadtwerken aus Deutschland und Österreich beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) Klage gegen die EU-Kommission ein. Als einziges EU-Mitgliedsland klagt auch Österreich – unterstützt von Luxemburg – vor dem EuGH. Die Verfahren laufen.

Die Bundesregierung schloss bereits Mitte Oktober 2014 – nur wenige Tage nach Bekanntgabe der Entscheidung – rechtliche Schritte gegen Brüssel aus: Ein von Bündnis 90/Die Grünen in den Deutschen Bundestag eingebrachter «Entschließungsantrag», in dem die Regierung aufgefordert wurde, Klage gegen den Beschluss der EU-Kommission einzureichen oder sich der Klage eines anderen europäischen Staates anzuschließen,  wurde bemerkenswert geschlossen von der Regierungskoalition abgelehnt. Ein weiterer Versuch der Opposition, die Bundesregierung zu einer klaren Position gegen das Brüsseler Votum zu bewegen, scheiterte Anfang Juli 2015  erneut am strammen Gegenhalten von CDU/CSU und SPD. Eine Klage vor dem EuGH hätte bis Ende Juli 2015 erhoben werden müssen.

Deutschland schlingert

Deutliche Worte fand Anfang 2016 immerhin der Bundesrat. In seiner Stellungnahme zu dem für 2016 von der EU-Kommission vorgelegten Arbeitsprogramm heißt es: «Die klimapolitischen Ziele der Energieunion dürfen nicht die Legitimation für eine Kehrtwende zur Atomkraft mit ihren erheblichen Risiken bieten ... Der Bundesrat kritisiert daher die Subventionen für Atomenergie und fordert die Kommission auf, die Entscheidung der vorherigen Kommission zu Hinkley Point III zu revidieren.»

Ob der deutsche Schlingerkurs gegenüber Brüssel letztlich diplomatisches Kalkül oder Zeichen für eine abhanden gekommene klare Position ist, bleibt fraglich. Als Reaktion auf Fukushima hatte Deutschland 2011 mit dem schrittweisen Abschalten seiner AKW bis 2022 den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Durch das Schweigen im Fall Hinkley Point C muss sich die Bundesregierung nun allerdings den Vorwurf gefallen lassen, den Ausbau der Atomenergie in Europa indirekt zu unterstützen – Brexit hin oder her. Denn bereits im Vorfeld der Kommissionsentscheidung wurde deutlich, dass der von Großbritannien angestrengte Präzedenzfall wegweisend für die europäischen Länder sein dürfte, die nach wie vor auf Atomenergie setzen oder erwägen einzusteigen.

Investitionszusage der Atomindustrie steht noch aus

Ob Hinkley Point C überhaupt gebaut wird, ist noch nicht entschieden. Denn trotz der zugesicherten milliardenschweren britischen Förderungen gibt es von der Atomindustrie bis heute lediglich Absichtserklärungen. Demnach soll der französische Staatskonzern EDF bei dem offiziell mit umgerechnet rund 23,5 Milliarden Euro veranschlagten Bauprojekt die Federführung übernehmen. Zu einem Drittel würde sich China beteiligen. Eine Investitionszusage wird von EDF jedoch seit Monaten immer wieder verschoben. Die Entscheidung ist nun für September 2016 angekündigt. Damit rückt auch der Baubeginn weiter nach hinten. Die voraussichtliche Inbetriebnahme des AKW wurde bereits von 2023 auf 2025 korrigiert.

Grund für das Wanken von EDF dürften nicht nur akute finanzielle Schwierigkeiten sein. Der Aktienkurs erreichte  Anfang 2016 ein Rekordtief mit einem Minus von fast 90 Prozent gegenüber dem Hoch von 2007. Im März 2016 trat der Finanzvorstand zurück. Medienberichten zufolge soll er seit Monaten davor gewarnt haben, dass EDF das Hinkley Point-Projekt momentan finanziell nicht stemmen könne – es sei einfach zu teuer. Das sehen laut «The Guardian» mittlerweile auch andere Vorstandsmitglieder so. Mitte Mai 2016 berichtete die britische Tageszeitung, dass EDF bereits davon ausgehe, die Kosten für das Projekt könnten umgerechnet um bis zu 3,5 Milliarden Euro höher liegen als erwartet – das wären dann rund 27 Milliarden Euro.

Technische Probleme bei baugleichen Reaktoren

In der Kritik stehen zudem gravierende technische Mängel an dem für Hinkley Point C vorgesehenen Reaktordruckbehälter. In Finnland und Frankreich werden derzeit zwei AKW mit baugleichen Druckwasserreaktoren des finanziell ebenfalls stark angeschlagenen französischen Herstellers Areva gebaut. Beide Projekte sind seit Jahren in Verzug und kosten mittlerweile deutlich mehr, als veranschlagt. Im Fall des französischen AKW Flamanville 3 bezweifeln Experten inzwischen sogar, dass es aufgrund der bislang zutage getretenen Baumängel jemals in Betrieb gehen kann. Pikant ist dies vor allem, weil die Kreditgarantie für Hinkley Point C unmittelbar an einen von EDF bis 2020 zu erbringenden Nachweis über den erfolgreich abgeschlossenen Versuchsbetrieb dieses AKW geknüpft ist.

Energiewende very british

Trotz der prekären Fakten hält die britische Regierung bis dato an den Plänen für Hinkley Point C fest. Und damit an der Strategie, sein von Klimaforschern und Umweltschützern einst hochgelobtes  Klimaschutzgesetz durch ein vom Steuerzahler kräftig mitfinanziertes Revival der Atomenergie umzusetzen. Als einziges europäisches Land hatte sich Großbritannien bereits 2008 verbindlich verpflichtet, seinen CO2-Ausstoß bis zum Jahr 2050 um bis zu achtzig Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Dies allerdings nicht durch einen offensiven Ausbau der erneuerbaren Energien, sondern vor allem mit neuen Gas- und eben auch Atomkraftwerken.

Dabei ist das Dilemma der britischen Regierung kaum zu übersehen: Bei der Sicherung der Energieversorgung des Landes läuft die Zeit davon. Kürzlich verkündete London, bis 2025 sämtliche Kohlkraftwerke zu schließen. Sie decken bislang fast ein Viertel des Stromverbrauchs. Außerdem sollen bis 2024 laut World Nuclear Association acht der derzeit 15 in Großbritannien betriebenen Reaktoren vom Netz gehen – wegen Altersschwäche, nach einer Laufzeit von dann zwischen 40 und 47 Jahren. Ab 2020 gilt es deshalb, eine Versorgungslücke von etwa 60 Gigawatt zu schließen.

Sollte Hinkley Point C tatsächlich gebaut werden und 2025 den Betrieb aufnehmen, würde das Atomkraftwerk mit seiner geplanten Leistung von rund 3,2 Gigawatt etwa sieben Prozent des Strombedarfs in Großbritannien decken. Die Frage ist, wie tief in die Staatskasse Großbritannien zu greifen bereit ist, um die französische Atomindustrie zu stützen. Und das auf die eher vage Garantie hin, dass durch diesen Deal auf der Insel künftig die Lichter nicht ausgehen würden.

20. Juni 2016 | Energiewende-Magazin