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Mit Lehm und Stroh

Ein Porträt von Frank Steinhofer

Natürliche Materialien, traditionelles Wissen: wie die mexikanische Architektin Alejandra Caballero Cervantes seit Jahrzehnten erdverbunden baut.

Dann schwebt die Gondel einer Seilbahn über die Schnellstraße und gleitet rechterhand in das Häusermeer hinab. Vor vierzig Minuten haben wir das Zentrum von Mexiko-Stadt hinter uns gelassen, die zweistöckigen Autobahnen, den quälenden Stau am Morgen. Eine gefühlte Ewigkeit dauerte es, bis wir schließlich den Saum der Megacity erreicht haben, die an den Rändern auszufransen scheint. Hinter uns liegt das weite Tal, von Vulkanen umringt. Vor uns erhebt sich noch immer eine Landschaft aus Beton. Tausende von Häusern ziehen an der Fensterscheibe vorbei – klein, grau, quadratisch. Sie sehen alle gleich aus. «Sozialer Wohnungsbau», kommentiert der mexikanische Fotograf Ilán Rabchinskey, der unseren Geländewagen steuert. Es ist nur schwer vorstellbar, wie Wohnungen direkt an einer vierspurigen Autobahn «sozial» sein können: Die winzigen Blöcke wirken trostlos, an den Bedürfnissen der Bewohner vorbeigeplant. Wie so oft eben.

Doch wie könnte menschengerechtes Wohnen in urbanen Räumen aussehen? Wie gelingt ökologisches Bauen, das diese Bezeichnung wirklich verdient? Insbesondere ohne den ganzen Beton, der in seiner Verarbeitung gewaltige Mengen an Sand und Energie verbraucht? Dann ist da noch das Bindemittel Zement, bei dessen Herstellung jährlich rund drei Milliarden Tonnen Kohlendioxid anfallen. Ich blicke auf meine Notizen: Beton ist für etwa acht Prozent der weltweiten Kohlenstoffemissionen verantwortlich, so ein Bericht der New York Times aus dem Jahr 2020. Wäre Beton ein Land, würde es bei den Emissionen an dritter Stelle hinter China und den Vereinigten Staaten stehen. Ist die Klimakrise somit nicht auch die Krise eines Baustoffs?

Das sind alles Fragen, die nicht nur Architekten und Ingenieure umtreiben. Immer mehr Menschen, die nach umweltfreundlichen, sozialverträglichen Bauweisen suchen, treten deshalb die gleiche Reise an wie wir – hin zu einer Frau, die seit über drei Jahrzehnten erprobt, erdverbunden zu denken und zu bauen: ­Alejandra Caballero Cervantes, eine Wegbereiterin der Biokonstruktion – einer Bewegung, insbesondere innerhalb der spanisch- und englischsprachigen Architekturszene, die auf natürliche Materialien und ortsbezogene Formen des Bauens setzt.

Frischer Blick auf traditionelle Bauweisen

Eine Frau in lehmfarbener Latzhose und mit zurückgebundenen grauen Haaren lacht sehr freundlich in die Kamera.
Alejandra Caballero Cervantes Foto: Ilán Rabchinskey

Zwei Stunden Fahrtzeit später wirkt die Landschaft nahe der Kleinstadt Tlaxco, östlich von Mexiko-Stadt, wie ausgewechselt: Agaven, Pinien, Wacholderbäume. Der Wald wird dichter, ein Fluss rauscht im Hintergrund, die letzten Meter des Weges sind nicht asphaltiert. An einem steinumfassten Tor begrüßt uns eine Frau in brauner Latzhose. Sie öffnet das Tor – und damit den Eingang zu einer anderen Welt des Bauens. Freundlich führt uns Alejandra Caballero dann über die Ranch «El Pardo», ein Teil ihrer Ausbildungsstätte «Proyecto San Isidro». Neugierige aus Mexiko, den Vereinigten Staaten und Europa kommen hierher, um an Kursen über den Strohdach- oder Lehmbau teilzunehmen und jahrhundertealte Techniken wie «bahareque», eine präkolumbische Pfostenbauweise, oder «zacatlaniloli» zu erlernen.

«Zacatla…?», frage ich vorsichtig. Caballero streicht mit ihrer Hand über eine frei stehende Wand. Dabei handele es sich um eine Bauweise aus Lehm und Stroh, erklärt die sechzigjährige Architektin. Seit den 1990er-Jahren habe sie mit Strohballen experimentiert – auch mit Unterstützung der MacArthur Foundation mit Sitz in Chicago. Und nach wirksamen Wegen geforscht, damit zu bauen. Damals wären viele mexikanische Männer in die Vereinigten Staaten ausgewandert, um Arbeit zu suchen. Es habe ganze Dörfer mit alleinstehenden Frauen gegeben. Deshalb erachtete sie es als notwendig, Techniken zu entwickeln, die gut von Frauen ausgeführt werden konnten. Strohballen hätten den Vorteil, dass sie leichter zu schleppen und zu stapeln seien. So helfe ein von Caballero eigens entwickeltes Verfahren heute vielen von ihnen im Bundesstaat Tlaxcala und in weiten Teilen Mexikos, die eigenen vier Wände aus Strohballen zu errichten – und damit auch ein Stück Unabhängigkeit zu erreichen. Ein erster Wink, wie traditionelle Bauweisen dabei helfen können, soziale Probleme zu lösen.

Das kleine Einmaleins des Lehmbaus

Der Rundgang über die Ranch geht weiter – das ausgedehnte Areal fühlt sich an wie ein riesiges Experimentierfeld. Alejandra Caballero führt uns an einer Handvoll Häuser und Konstruktionen vorbei, die allesamt bei Workshops entstanden sind. Dort eine Mauer aus Lehmziegeln, hier eine Hauswand aus Stampflehm und dazwischen eine Wendeltreppe, die aus Wellerlehm errichtet wurde. Schnell lernen wir: Ton, Sand und Schluff sind die natür­lichen Inhalte von Lehm. Sie alle stammen aus dem Boden – mit Lehm bauen bedeutet also mit Erde bauen. Bei Wellerlehm wird zudem Stroh als Zuschlag hinzugefügt. Dabei gilt: Je mehr Ton im Lehm steckt, desto mehr Stroh verträgt die Mischung. Der Ton wirkt als Bindemittel, wie der Zement im Beton. Ich klopfe an eine Wand aus Wellerlehm, sie fühlt sich steinhart an. Wie tragfähig mag solch eine Lehmkonstruktion wohl sein? «Sind auch größere Gebäude vorstellbar? Hochhäuser etwa?», möchte ich gerne wissen. «Aber natürlich!», erklärt Alejandra Caballero. «In der Stadt Schibam im Jemen stehen Wolkenkratzer aus Lehm und Holz, einige davon sind neun Stockwerke hoch, viele davon jahrtausendealt.»

Eine Frau in lehmfarbener Latzhose läuft durch einen grünen wilden Garten, in dem eine runde Laube und ein Haus mit Strohdach zu sehen sind.
Alejandra Caballero führt durch das Ausbildungszentrum «Proyecto San Isidro». Foto: Ilán Rabchinskey
Zwei Lehmhäuser in gleißender Sonne. Die Fensteröffnungen sind mit organisch gewachsenen Hölzern gefüllt.
Alle Gebäude auf dem großzügigen Areal wurden im Rahmen der Workshops von Alejandra Caballero errichtet. Foto: Ilán Rabchinskey
Detailansicht des Lehmhauses: unterhalb eines überstehenden Strohdaches sind Flaschen unterschiedlicher Färbung tief in die Lehmwand eingearbeitet.
Die Architektin lehrt, mit natürlichen Materialien wie Lehm, Stroh und Holz zu bauen. In ihre Lehmkonstruktionen integriert sie häufig Glasflaschen. Foto: Ilán Rabchinskey
Blick aus dem Innenraum desselben Hauses nach draußen: die eingearbeiteten Flaschen sorgen für eine bunte und atmosphärische Beleuchtung..
Die bunten Glasflaschen sorgen für eine angenehme indirekte Beleuchtung und lassen das Licht wie durch Glasmalerei schimmern. Foto: Ilán Rabchinskey
Ein runder heller Workshopraum wird überspannt von einem Strohdach mit darin integrierten Dachfenstern.
Ein strohgedeckter Veranstaltungsraum im Ausbildungszentrum. Das Dach wurde auf Grundlage jahrhundertealter Konstruktionstechniken errichtet. Foto: Ilán Rabchinskey
In einem hellen großen Raum steht die Architektin, flankiert von ihren beiden Hunden.
Im Ausbildungszentrum «Proyecto San Isidro» leitet Alejandra Caballero seit über 30 Jahren Kurse über Biokonstruktion und Lehmbauverfahren. Foto: Ilán Rabchinskey
Die Architektin verlässt mit ihren beiden Hunden ein rundes Lehmhaus mit großen Strohdach.
Häuser mit kegelförmigen Strohdächern haben in Mexiko eine lange Tradition. Im Ausbildungszentrum lernen die Teilnehmenden, wie sie solche Bauten auch ohne professionelle Hilfe errichten können. Foto: Ilán Rabchinskey

Im weiteren Gespräch bekomme ich eine Vorstellung davon, welche Vorzüge Lehm als Baustoff bietet: Ein Lehmhaus atmet, reguliert Feuchtigkeit. Lehm ist vielfältig einsetzbar, kein weit gereistes Baumaterial, weil es fast überall direkt vor Ort zur Verfügung steht. Der Bau eines Lehmhauses verbraucht nur einen Bruchteil der Energie, die für ein Gebäude in Betonbauweise nötig ist. Am Ende eines Lebenszyklus kann ein Lehmhaus zudem vollständig entsorgt und in natürliche Kreisläufe rückgeführt werden – nachhaltiger geht es nicht.

Die Abhängigkeit von Zement und Beton brechen

Woran liegt es eigentlich, dass nicht mehr Lehmhäuser in Großstädten gebaut werden? Fehlt es an politischem Willen? Während wir weitergehen, kommt Caballero auf die Situation in Mexiko zu sprechen: «Die Zementindustrie übt hier großen Einfluss aus», beginnt sie. In den 1950er- und 60er-Jahren habe unter der «Institutionellen Revolutionspartei» PRI (Partido Revolucionario Institucional) ein regelrechter Bauboom stattgefunden. Die Regierung wollte einer bestimmten Vorstellung von Fortschritt entsprechen – und ein modernes, entwickeltes Land brauche eben einen modernen Baustoff wie Zement, so die gängige Logik jener Zeit. Die Bauindustrie habe angefangen, soziale Wohnprojekte zu fördern und Instandhaltungen an öffentlichen Regierungsgebäuden zu unterstützen. Riesige, oft schon bald wieder vor sich hinbröckelnde Sozialbauten seien entstanden – und Lehmhäuser mit der Zeit als rückständig dargestellt worden, obwohl Millionen von Menschen darin bis heute ein Zuhause finden. So gerieten traditionelle Bauweisen immer mehr in Vergessenheit.

Mit natürlichen Materialien zu bauen hat mit Demut zu tun.

Alejandra Caballero, Architektin

«Bietet Zement als verarbeiteter Beton nicht auch Vorteile?», hake ich nach, mir fallen seismische Risiken ein. «Ist er im Fall eines Erdbebens nicht stabiler?» Alejandra Caballero lächelt geduldig, als wäre ihr dieser Einwand nicht fremd. «Bei Erdbeben in Mexiko haben schlecht konzipierte, konventionelle Bauten aus Beton bislang häufiger versagt. Viele der alten Gebäude im Zentrum von Mexiko-Stadt wurden aus Erde gebaut – und diese stehen noch.» Sie weist darauf hin, dass nicht nur in Mexiko, sondern auch in Europa sowie in den Vereinigten Staaten viele Brücken marode sind und Baumängel an Häusern bestehen. «Schauen Sie, was gerade in Surfside, einem Vorort von Miami, passiert ist», entgegnet sie. «Das Gebäude ist eingestürzt – und es war aus Beton.» Wenn man sich die Menschheitsgeschichte vergegenwärtige, habe man ungefähr 150 Jahre Erfahrung mit Portlandzement, der heutzutage benutzt werde. Das sei wenig im Verhältnis zu dem jahrtausendealten Wissen über traditionelle Bauweisen: ein Schatz, den es zu bergen und zu erhalten gelte. Darüber hinaus verändere die industrialisierte Bauweise, die auf billige und schnelle Produktion setze, auch die Denkweise. «Mit natürlichen Materialien zu bauen hat mit Demut zu tun. Und damit, sich zu fragen: Wo bin ich? Was sind die Gegebenheiten und Materialien des Ortes? Was sagt mir das Klima darüber, wie ich das Haus erbauen kann?», erklärt sie. Vielfalt vor Ort statt Standardisierung überall, so ihr Credo.

Hinter einer großen Kaktee und schattenspendenden Bäumen der Eingang zu einem eingeschossigen Lehmhaus mit Steinsockel.
Standfest und klimaschonend gebaut: Caballeros Wohnhaus steht auf einem Sockel aus Naturstein. Foto: Ilán Rabchinskey
Die Architektin sitzt mit ihren beiden Hunden in einer großzügigen Veranda. Durch große runde und eckige Wanddurchbrüche schaut man in die wilde grüne Natur.
Ein Leben im Einklang mit der Natur Foto: Ilán Rabchinskey

Gebäude als Teil natürlicher Kreisläufe denken

Zwei Hunde gesellen sich zu uns, folgen uns auf Schritt und Tritt. Einer von ihnen springt freudig an der Architektin hoch, lässt sich am Hals kraulen. Alejandra Caballero sortiert in Ruhe ihre Gedanken. «Biokonstruktion ist mehr als nur die Wahl von Materialien oder eine bestimmte Form des Bauens. Es ist eine Art des Seins.» Zum ökologischen Bauen gehöre auch ein veränderter Lebensstil – und prompt sind wir an einem Trockenklo angekommen, das Abwasser spare und Kompost liefere. «Nur jetzt nicht», sagt Caballero mit einem Lächeln. «Während der Pandemie fanden hier keine Kurse statt, die Gruppen haben keine ‹Spende› hinterlassen», scherzt sie.

Häuser sind wie Menschen: Sie nehmen Dinge auf und geben Dinge zurück.

Alejandra Caballero, Architektin

Wer bei der Zukunft des Bauens nur an Hightech denkt, liegt also falsch. Die Revolution findet auch auf der Toilette statt. Was zunächst wie ein nebensächliches und eher kleinteiliges Thema klingt, leuchtet nach Caballeros Ausführungen durchaus ein. «Eine Frage steht bei der Biokonstruktion über allem: Woher kommt etwas? Wohin geht es?», erklärt sie. Das gelte für Baustoffe, aber eben auch für Nahrung, Wasser und alle anderen Dinge des täglichen Lebens. «Häuser sind wie Menschen: Sie nehmen Dinge auf und geben Dinge zurück. Es ist doch eine wichtige Funktion, wenn das Verdauungssystem eines Hauses gesund ist, es kein Wasser verschwendet und Abfälle zu Nährstoffen umgewandelt werden.»

Je mehr die Architektin über geschlossene Kreisläufe redet, um danach auf gesamtheitliches Bauen zu kommen, desto stärker drängt sich die Frage auf, warum solche Lösungen nicht schon häufiger eingesetzt werden. «Wie kann ein Wandel beim Bauen konkret aussehen?», frage ich. Es gebe viele Wege, ein Haus gesünder und ökologischer zu gestalten, antwortet Caballero: Lehm als Baustoff natürlich, ein Dach begrünen zum Beispiel, eine Solarheizung anbringen, zu einer Trockentoilette wechseln oder auch einfach einen Kalkanstrich verwenden, der nicht giftig ist. Klingt einfach – aber wie lässt sich das umsetzen? Wir verlassen die Ranch, um in der Nähe ein Privathaus zu besichtigen, das gerade fertiggestellt wurde.

Das Vermächtnis des Elternhauses

Auf einer Anrichte stehen zwei gerahmte Bilder, eines zeigt das Portrait einer älteren Frau, das anderes das eines älteren Mannes.
In Caballeros Elternhaus Foto: Ilán Rabchinskey

Auf dem Weg dorthin machen wir am Elternhaus der Architektin Halt – und schnell wird klar, dass Caballeros Traum von einer anderen Welt wohl hier, in ihrer Kindheit, geboren wurde. Das Gebäude aus Lehm und Vulkangestein erzählt davon. An den Wänden hängen Bilder und Auszeichnungen, Zeitungsartikel dokumentieren die Familiengeschichte: Ihr Vater, Carlos Caballero Zamora, war ein Förster, der 50 Hektar Land erstanden hatte, um das erodierte Erdreich wieder aufzuforsten. In seinem Leben soll er nahe der Ranch «El Pardo» mehr als eine halbe Million Bäume angepflanzt haben. Alejandra Caballero zeigt uns zwei Bilder aus dem Arbeitszimmer ihres verstorbenen Vaters: das aufgeforstete Wald­stück – vorher und nachher. Die Restaurierung des Waldes und die Bewirtschaftung des Bodens nach Art der biodynamischen Landwirtschaft haben ihm den Ruf des «Öko-Pioniers» eingebracht.

Die lokale Tageszeitung «El Sol de Tlaxcala» taufte ihn den mexikanischen «Großvater der Permakultur». Alejandra Caballero erinnert sich lebhaft an diese Zeit. «Seit ich ein Kind war, hat unsere Familie Müll getrennt. Ich habe von Dingen wie Kompostierung gehört, als diese Worte noch kaum jemand kannte», erzählt sie. «Unser Zuhause war wie eine zweite Schule für mich.» Von ihren Eltern habe sie gelernt, wie man das Land bestellt, Tische zimmert und Tiere hält. Mit ihrem Vater habe sie Landwirte besucht – und dadurch viel über die Bauten vor Ort gelernt.

Mein Traum ist es, dass jeden Tag mehr Menschen die Bedeutung traditioneller Bauweisen begreifen.

Alejandra Caballero, Architektin

Später habe sie Architektur an der Universität in Puebla studiert. Schon mit fünfundzwanzig Jahren, 1986, erhielt sie eine Auszeichnung zum Schutz des kulturellen Erbes vom mexikanischen Nationalinstitut für Anthropologie und Geschichte (INAH). Im Austausch mit lokalen Handwerkern vertiefte sie dann ihr Bauwissen. Seit 1988 arbeitet sie als freie Architektin. Später übernahm sie das Grundstück ihres Vaters und gründete 1994 das Ausbildungszentrum «Proyecto San Isidro». Caballero schildert ihre Beweggründe: «Mein Traum ist es, dass jeden Tag mehr Menschen die Bedeutung traditioneller Bauweisen begreifen und verstehen, wie hoch der ökologische Fußabdruck des konventionellen Bauens ist.» Vorbilder seien für sie der ägyptische Architekt Hassan Fathy, der für Lehmbau und eine sozialere Wohnungspolitik eintrat, oder Lloyd Kahn, ein US-amerikanischer Pionier des «Natural Building Movement».

Eine Veranda, die der Sonne folgt

Viele dieser Einflüsse Caballeros werden erlebbar, als wir dann am Nachmittag das von ihr geplante Privathaus eines Bauherren besuchen. Über einen unbefestigten Weg geht es mit dem Wagen bergauf, linkerhand erstreckt sich das weite Tal. Die Sonne flirrt, lässt den Horizont durchsichtiger erscheinen. Vor uns liegt ein ebenerdiges, fast schon bezugsfertiges Lehmgebäude. Die beeindruckend große Veranda aus Wacholderholz wurde nach dem Lauf der Sonne ausgerichtet – eine Erinnerung daran, dass Häuser in Mexiko ursprünglich auch Observatorien waren, von denen aus man die Sonne und die Sterne beobachtete, um zu wissen, wann gesät und wann geerntet werden muss.

Die Veranda führt in einen großen, noch unmöblierten Wohnbereich, der mit Kalk verputzt ist. Das Sonnenlicht bricht sich farbenfroh durch ein Altglas-Mosaik, das in eine der Wände eingelassen wurde. Nach einer kurzen Einführung eilt Caballero wieder nach draußen, durch den anliegenden Garten, um sich in einem kleinen Nebengebäude nach dem Befinden des Hausmeisters und seiner Familie zu erkundigen. Wie sich herausstellt, hat sie ihnen gleich ein eigenes Lehmhaus mitgebaut, mit Solaranlage und einem Kühlschrank, der Verdunstungskälte nutzt und ohne Strom funktioniert, wie der Hausmeister und neue Besitzer stolz präsentiert. «Das Haus ist schön kühl, während die Sonne scheint. Nachts ist es auch gar nicht kalt. Unser kleiner Sohn fühlt sich hier schon ganz zu Hause», erzählt der Angestellte glücklich. Caballero bleibt neugierig, stellt ihm weitere Fragen zu Raumklima und Atmosphäre. Sie sorgt sich sichtlich um die Lebensqualität der Familie. Ein starker Kontrast zu den Sozialwohnungen von heute Morgen, die an meinem geistigen Auge vorbeiziehen: die Nähe zur Autobahn, die Fülle an schnell verbautem Beton, der den Bewohnern eher die Zukunft zu verbauen scheint.

Eine fast kreisförmig um das Haus laufende überdachte offene Veranda ist aus organisch gewachsenem Holz gebaut.
Das Haus für einen Privatkunden: Caballero verbaute bei der Dachkonstruktion und der Veranda Holz aus nahe gelegenen Wacholderwäldern. Foto: Ilán Rabchinskey
In eine quadratische Lehmfläche ist ein rundes Dutzend zentriert angeordneter blauer Flaschen eingelassen.
Auch hier wurden Glasflaschen eingearbeitet – als stilvolle und farbenfohe Rosette. Foto: Ilán Rabchinskey
Ein lichtdurchfluteter, offener Innenraum mit einer sehr natürlichen, warmen und organischen Atmosphäre.
Die Lehmwände sind mit Kalk verputzt, die großzügige, offene Küche öffnet sich zur Veranda. Foto: Ilán Rabchinskey

Mit Mensch und Natur bauen – nicht gegen sie

Caballero erklärt, wie wichtig es sei, dass Architektur eine Rückverbindung zur Natur ermögliche und Menschen nicht von ihr entfremde. Traditionelle Bauweisen würden dabei helfen. Sie seien ökologischer und gesünder – für die Bewohner wie für die Umgebung, weil die Beziehung zwischen beiden über Jahrhunderte hinweg sorgsam weiterentwickelt worden sei. Eine letzte Frage stelle ich noch: Was wäre, wenn sie einen Auftrag in Deutschland bekäme? Wie sähe ihre Vorgehensweise aus? Alejandra Caballero überlegt kurz: «Ich würde mich dort hinsetzen und beobachten. Schauen, wie das Klima ist. Welches Holz die Schreinereien benutzen. Wie sich die Erde zusammensetzt. Ich würde den Menschen zuhören.» Eine kurze Pause verstreicht. Selten sind solche Worte von Stararchitekten zu vernehmen, die weltweit ihre Konstruktionen errichten und oft vor allem auf die eigene Handschrift pochen. Vor uns steht dagegen eine Architektin, die ihr Leben offensichtlich einer Sache verschrieben hat: mit Mensch und Natur zu bauen – und nicht länger gegen sie.

Wir steigen mit Alejandra Caballero in den Wagen ein und fahren bergab. Die Sonne ergießt sich ins Tal. Mir liegen die Worte des mexikanischen Schriftstellers Juan Rulfo im Ohr: «Die Luft ist frisch, es gibt Sonne und Wolken. Dort oben also ein blauer Himmel, dahinter Lieder, vielleicht bessere Stimmen, kurzum: ein wenig Hoffnung.» Und auf dem Weg zurück in die Megacity wächst in mir die Hoffnung, dass wir die Erde erhalten können – indem wir lernen, wieder mit Erde zu bauen.

Logo von Caballeros´ Ausbildungszentrum «San Isidro»
«Proyecto San Isidro» 

Ökologisches Bauen und gesunde Ernährung: Das Ausbildungszentrum von Alejandra Caballero Cervantes bietet ganzjährig Kurse zu natürlicher Bau- und Lebensweise an. Ein jährlich wiederkehrender Höhepunkt ist der mehrwöchige Workshop zur Biokonstruktion, bei dem Kursteilnehmer lernen, eigene Gebäude mit natürlichen Materialien zu errichten.

Bildstrecke: Lehmbau international Historische und zeitgenössische Bauten aus Lehm

Lehm ist einer der ältesten Baustoffe der Menschheit, ab dem 10. Jahrtausend v. Chr. wurde er in nahezu allen Kulturen eingesetzt. Über ein Drittel der Weltbevölkerung lebt heute in Gebäuden aus Lehm. Im Zuge der Industrialisierung haben Beton und Stahl den natürlichen Baustoff nahezu verdrängt. Aber seit einigen Jahren erlebt Lehm eine Renaissance: Mit kaum einem anderen Material lässt sich so gesund, energieschonend und ökologisch bauen.

Weiße und lehmfarbene hohe, archaisch anmutende Hochhäuser schließen direkt aneinander an. Dahinter eine blanke Felswand unter strahlend blauem Himmel, im Vordergrund Palmen.
Lehmtürme in Schibam: Die jahrtausendealte Oasenstadt in Jemen gehört zum Weltkulturerbe und wird auch «Manhattan der Wüste» genannt – wegen der bis zu neunstöckigen Hochhäuser, die alle in Lehmziegelbauweise errichtet wurden. Foto: Don Whitebread / Adobe Stock
Ein ungewöhnliches, organisch anmutendes Bauwerk mit zahlreichen Turmspitzen. Auf gesamter Höhe ragen Rundhölzer aus dem Bauwerk.
Der weltweit größte Sakralbau aus Lehm steht in Mali und wird jedes Jahr nach der Regenzeit in einem Festakt restauriert: die «Große Moschee von Djenné», erbaut im 12. und 13. Jahrhundert. Foto: Joerg Boethling / Alamy Stock
In einer grünen Landschaft sind aus der Luft drei Rundhäuser zu sehen. Sie sind sehr groß, flach, gelb und mit Ziegeldächern versehen.
Traditionelle Erdhäuser der Hakka: Viele Dörfer im Bergland der chinesischen Provinz Fujian sind von Rundhäusern aus Lehm geprägt. Die Form soll vor bösen Geistern schützen, die sich in Ecken verbergen könnten. Foto: Imaginechina Limited / Alamy Stock
Zwei Bilder eines grauen, mehrgeschossigen Wohnhauses, das recht unspektakulär und in die Jahre gekommen aussieht.
Auch hierzulande hat der Lehmbau eine lange Tradition: Das unscheinbar wirkende «Pisé-Haus» in Weilburg an der Lahn wurde um 1835 erbaut und gilt mit knapp zwanzig Metern noch heute als höchstes Stampflehmgebäude Europas. Fotos: Gerold Rosenberg (li.) Oliver Abels (re.)
Sachlicher ovaler Bau, der von senkrechten Holzlamellen umgeben ist. An der oval-schmalen Seite ist ein großes christliches Kreuz eingearbeitet.
Berlins erster Stampflehmbau, die «Kapelle der Versöhnung»: Die Lehmwände des sieben Meter hohen Ovals sind von Holzlamellen umhüllt. Foto: Schöning Berlin / picture alliance
Ein lehmfarbener schmaler Quaderbau mit großen Fenstern wächst aus einem Hang heraus.
Vom Lehmbaupionier Martin Rauch zusammen mit dem Architekten Roger Boltshauser geplant und gebaut: das «Haus Rauch» in Schlins im Vorarlberg. Für seine Errichtung wurde überwiegend Lehmerde aus dem Aushub verwendet. Foto: Beat Bühler
Ein ungewöhnliches lang ovales Gebäude mit einem aufgesetzten zweigeteilten eckigen Obergeschoss öffnet sich rundum in alle Richtungen.
Zentrum für Menschen mit Behinderungen «Anandaloy» in Rudrapur: Ein Meisterwerk aus Wellerlehm, der lebendige Kurven ermöglicht – entworfen von der Architektin Anna Heringer, gemeinsam gebaut mit lokalen Handwerkern in Bangladesch. Foto: Kurt Hörbst
Um einen Hof stehen aufgereiht warm-rot leuchtende kleine Häuser, deren Dächer mit einem luftigen Abstand über dem Baukörper zu schweben scheinen.
Chirurgische Klinik in Léo: Tagsüber kühl, nachts lange warm – dank der thermischen Masse von gepressten Lehmsteinen, die der in Berlin lebende Architekt Francis Kéré in Burkina Faso verwendete. Foto: Kéré Architecture
Auf einer Wiese steht ein flacher, langer, quaderförmiger Bau, in den lediglich ein großes rundes Fenster eingelassen ist.
«Ricola Kräuterzentrum» in Laufen (Schweiz): Die 111 Meter lange Halle ist der derzeit größte Lehmbau Europas, entworfen von dem Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron. Foto: Markus Bühler-Rasom
Eine computergeneriertes Bild zeigt ein modernes schmales lehmfarbenes Hochhaus mit vielen Fensteröffnungen, das über die Baumwipfel herausragt.
Der Entwurf dieses Wohnturms in Paris sorgte für Aufsehen und veranschaulicht, wie in Zukunft mit Lehm gebaut werden könnte. Die Architekten gewannen im Wettbewerb jedoch nur den zweiten Preis. Visualisierung: Joly & Loiret Architects

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11. Februar 2022 | Energiewende-Magazin