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Fukushima – der Kampf gegen das Vergessen

Der Journalist Toshikuni Doi im Gespräch mit Susanne Steffen

Zehn Jahre nach dem Super-GAU in Fukushima sind die Wunden der Menschen dort trotz aller staatlichen Parolen noch lange nicht verheilt.

Am 11. März 2011 um 14:46 Uhr erschütterte eines der schwersten je gemessenen Erdbeben den Nordosten Japans. Binnen Minuten folgte ein bis zu 38 Meter hoher Tsunami, der mehr als 15.000 Menschen in den Tod riss. Die Monsterwelle überflutete auch das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi und setzte sämtliche Notstromaggregate außer Gefecht. Machtlos mussten die Ingenieure der Hightech-Nation zusehen, wie die Kerne in drei Reaktorblöcken schmolzen. Es folgten mehrere Wasserstoffexplosionen, bei denen große Mengen Radioaktivität freigesetzt wurden.

In einem Umkreis von 20 Kilometern musste die Region vollständig evakuiert werden. Später wurden weitere, schwer kontaminierte Gebiete geräumt. Insgesamt verloren laut Angaben der japanischen Non-Profit-Organisation «Citizens’ Nuclear Information Center» etwa 165.000 Menschen ihr Zuhause. Ein Großteil der evakuierten Gebiete konnte nach einer umfassenden Dekontaminierung durch Abtragen der obersten Erdschicht wieder als Wohnraum freigegeben werden. Doch etwa ein Fünftel der ursprünglichen Sperrzone ist bis heute unbewohnbar – und wird es auch auf absehbare Zeit bleiben. 37.000 Menschen werden möglicherweise nie wieder in ihre Heimat zurückkehren können.

Ein sehr unscharfes pixeliges Bild zeigt, vom Meer aus fotografiert, eine gewaltige Explosionswolke in einem Teil des Kraftwerkes.
12. März 2011, einen Tag nach dem Beben und dem Tsunami: Wasserstoffexplosion im beschädigten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi
Ein Bild vollkommender Zerstörung: der Kraftwerksblock ist ein in sich zusammen geschmolzener riesiger Quader.
Der zerstörte Block 3 des AKW im Oktober 2011 Foto: Giovanni Verlini / IAEA
Eine Straße ist durch Leitplanken und ein Tor abgesperrt. Das Foto zeigt die Straßenflucht mit Häusern und Schildern, im Hintergrund Berge.
Die Hauptstraße des Städtchens Namie: Von hier sind es nur acht Kilometer bis zur Reaktorruine. Bis Ende März 2017 war die Stadt vollständig evakuiert. Foto: Satoru Sasaki / Alamy Stock
Eine unübersichtliche Landschaft von gelben Decken, Dingen, Plastiktüten und auf Matten ruhenden Menschen.
21. März 2011: ein Auffanglager für Fukushima-Evakuierte in Tokio Foto: Yamaguchi Haruyoshi / Corbis via Getty Images

Auch zehn Jahre nach dem zweitschwersten Atomunfall der Geschichte gehen die Aufräumarbeiten nur schleppend voran. Noch immer lagern Hunderte hoch radioaktive Kernbrennstäbe in den zerstörten Reaktoren. Die Bergungsarbeiten, um alle Blöcke zu räumen, werden bis 2031 dauern. Die halbwegs intakten Brennstäbe aus den von heftigen Explosionen zerstörten Abklingbecken zu bergen, ist eher eine einfache Aufgabe – im Vergleich zur Bergung der zu einer unförmigen, höchst radioaktiven Masse geschmolzenen Reaktorkerne. Zwar weiß man mittlerweile, wo sich deren Überreste  in der Ruine ungefähr befinden, doch die Arbeiten zur Beseitigung der auf insgesamt rund 900 Kilogramm geschätzten Masse haben noch immer nicht begonnen.

Wohin mit Abraum und Kühlabwässern?

Zudem ist ungeklärt, wo und wie die gigantischen Mengen radioaktiver Abfälle gelagert werden sollen. Das gilt vor allem für den Atommüll, der außerhalb der Kraftwerksmauern anfällt. Gut zehn Millionen Kubikmeter verstrahlter Erde, die bei der Dekontaminierung von Wohngebieten angehäuft wurden, liegen in einem Zwischenlager in unmittelbarer Nähe des Kraftwerks – in der am stärksten verstrahlten Region. Das sind 75 Prozent der zur Dekontaminierung abgetragenen Erdschicht. Die restlichen 25 Prozent lagern bis heute – oft nur notdürftig mit Planen abgedeckt – auf Parkplätzen oder unbewohnten Grundstücken mitten in Wohngebieten. Spätestens 2045 soll das Zwischenlager geräumt und der Atommüll außerhalb Fukushimas endgelagert werden. Noch gibt es allerdings nicht einmal potenzielle Standort für ein solches Endlager.

Im Kraftwerk selbst fallen täglich rund 150 Kubikmeter verseuchtes Kühlwasser an, das auf dem Reaktorgelände gelagert wird. Doch spätestens im Herbst 2022 werde es laut dem Betreiber Tepco keinen Platz mehr für neue Wasserbehälter geben. So versucht der Betreiber seit Jahren, eine Genehmigung zu erhalten, das gereinigte Wasser, welches allerdings noch radioaktives Tritium enthält, ins Meer leiten zu dürfen. Sollte die Regierung hierzu die Erlaubnis erteilen, fürchten lokale Fischereikooperativen, dass dies endgültig ihre Lebensgrundlage zerstören wird.

Vom Meer aus seiht man ein kleines Boot, an der Küste die Blöcke des Atomkraftwerkes Fukushima.
Meeresexperten der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und japanische Wissenschaftler sammeln Wasserproben in der Nähe des AKW Fukushima Daiichi. Foto: Petr Pavlicek / IAEO
Auf der Luftaufnahme sieht man zahlreiche Wassertanks und direkt an der Küste das zerstörte AKW, umsäumt von mit Kränen.
Der Platz wird langsam knapp: Auf dem Gelände des AKW Fukushima Daiichi lagern Hunderte Behälter mit kontaminiertem Kühlwasser. Foto: Asahi Shimbun / Getty Images

Dass von der Reaktorruine noch immer potenziell Gefahr ausgeht, hat gerade erst eines der schwersten Nachbeben gezeigt, das am 13. Februar 2021 die Region erschütterte. Das Seebeben hatte eine Stärke von 7,3. Nur die Tiefe des Epizentrums verhinderte einen neuen Tsunami. Möglicherweise haben die heftigen Erdstöße die Schäden an den zehn Jahre alten Reaktorhüllen weiter verschlimmert, so die Befürchtung von Tepco. Gleichzeitig beruhigt der Betreiber: Momentan werde keine erhöhte Strahlung gemessen und es gehe keine akute Gefahr von der Ruine aus. Doch ist seit dem Beben der Kühlwasserpegel in zwei Reaktorblöcken mit geschmolzenen Kernen trotz unveränderter Kühlwasserzufuhr deutlich gesunken und sinkt weiterhin. Ferner hat sich auch der Druck in Block 1 seit dem Beben verringert, was ebenfalls für neue Schäden an der Bausubstanz spricht.

Toshikuni Doi: «Fukushima Speaks»

Zehn Jahre nach dem Unfall ist die Region noch immer weit entfernt von der Normalität aus der Zeit vor der Katastrophe. Wie geht es den Menschen dort, die tagtäglich mit den Folgen des Unfalls leben müssen? Und wie hat der Atomunfall Japan verändert? Darüber sprachen wir mit dem japanischen Journalisten Toshikuni Doi. Für seinen Dokumentarfilm «Fukushima Speaks» hat er vier Jahre lang Opfer der Atomkatastrophe begleitet.

 

Herr Doi sitzt in seinem Arbeitszimmer vor dem Computerbildschirm, dreht sich nach rechts dem Fotografen zu, und schaut in die Kamera.
Toshikuni Doi Foto: Yasuyuki Takagi

Herr Doi, sieht man heute Bilder aus Fukushima, könnte man denken, zehn Jahre nach dem Atomunfall herrsche wieder Normalität. Sie dagegen behaupten, die Wunden der Menschen seien noch immer offen. Welche Wunden meinen Sie?

Die sichtbaren Wunden wie zerstörte Infrastruktur und langsam verfallende Häuser sind weitgehend verheilt. Nur in den am stärksten verstrahlten Gebieten, die noch nicht wieder geöffnet wurden, sieht man nach wie vor das ganze Ausmaß der physischen Zerstörung. In Gebieten, die wie Fukushima-Stadt trotz erhöhter Strahlenwerte nie evakuiert wurden, könnte man tatsächlich auf den ersten Blick glauben, die Wunden seien verheilt. Viel schlimmer als die physischen Auswirkungen sind jedoch die seelischen. Die Menschen haben ihre Träume, ihre Lebensaufgaben verloren. Die Wunden, die dieser Verlust hinterlässt, werden von Tag zu Tag größer.

Sie haben für Ihren Dokumentarfilm «Fukushima Speaks» 14 Menschen vier Jahre lang begleitet. Wie haben sich die Wunden dieser Menschen im Laufe der Zeit verändert und wie geht es ihnen heute?

Ich habe seit 2014 rund 100 Menschen in Fukushima interviewt. Viele von denen, die ich kennengelernt habe, sind gestorben, auch junge Leute – an verschiedensten Krebsarten. Natürlich kann niemand mit Sicherheit sagen, ob der Atomunfall schuld an ihrem Tod war. Diejenigen, die nicht körperlich krank geworden sind, machen rein äußerlich erst mal den Eindruck, dass es ihnen gut geht. Bis sie einem ihr Herz öffnen.

Vor dem Unfall haben die meisten Menschen in der ehemaligen Sperrzone in Haushalten mit drei bis vier Generationen gelebt. Da hatte jeder eine Aufgabe. Die Alten haben sich um die Enkel gekümmert, die Jungen haben den Lebensunterhalt verdient. Im Zuge der Evakuierung wurden diese Familienverbände auseinandergerissen, da die Menschen in winzige provisorische Container-Bauten ziehen mussten, die keinen Platz für Mehrgenerationsfamilien boten. Vor allem die Alten hatten plötzlich nichts mehr zu tun. Ihnen fehlte ein Sinn im Leben. Einer meiner Protagonisten hat mal gesagt, das Leben in den Containern sei wie im Gefängnis – nur dass ein Verbrecher wisse, wann die Strafe abgesessen ist. Die Fukushima-Evakuierten wussten dagegen nie, wie lange sie noch in den behelfsmäßigen Unterkünften bleiben müssen. Das Leben dort habe sich angefühlt wie ein «provisorisches Leben». Heute lebt in Fukushima so gut wie niemand mehr in diesen Übergangslösungen. Die meisten Menschen haben sich außerhalb der Sperrzone neue Häuser gebaut oder leben in staatlich finanzierten «Wiederaufbau-Häusern».

Ein Großteil der ehemaligen Sperrzone ist nach der Dekontaminierung wieder geöffnet. Viele Evakuierte könnten längst in ihre Häuser zurückkehren, aber offenbar wollen das die wenigsten. Manche Gemeinden haben heute nur noch knapp 15 Prozent der früheren Einwohner. Im Durchschnitt kommt etwa nur ein Drittel zurück, warum?

Die Jungen haben Angst vor der Strahlung und davor, dass ihre Kinder an Krebs erkranken könnten. Eine Mutter aus Iitate, einer Dorfgemeinde, die bis 2017 in der Sperrzone lag, sagte mir, dass sie sich sogar die Schuld geben würde, wenn ihre Töchter irgendwann Kinder mit möglicherweise strahleninduzierten Krankheiten oder Behinderungen gebären würden. Deshalb schaffe sie es mental nicht, nach Iitate zurückzukehren. Ganz verschwindet diese Angst natürlich auch dann nicht, wenn die Leute außerhalb der Sperrzone bleiben. Dort gibt es ebenso die Sorge vor Diskriminierung auf dem Heiratsmarkt. Wir alle wissen, dass die Menschen aus Hiroshima und Nagasaki jahrzehntelang ihre Herkunft verschweigen mussten, wenn sie Chancen auf einen Ehepartner außerhalb ihrer Heimat haben wollten.

Ein weiterer Grund, warum sich viele Menschen gegen die Rückkehr entscheiden, ist die Angst vor dem «wirtschaftlichen Aus». Viele waren Bauern, doch landwirtschaftliche Produkte aus Fukushima verkaufen sich in Japan auch heute noch schlecht. Die einzigen, die sich trauen zurückzukehren, sind die Alten. Doch auf sie wartet ein einsames Leben mit zahlreichen Entbehrungen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann diese Dörfer im wahrsten Sinne des Wortes einfach aussterben. Ich fürchte, wir werden in Fukushima bald eine rasante Zunahme von psychischen Erkrankungen wie Depressionen sehen. Das wird wohl auch mit einer steigenden Selbstmordrate einhergehen.

Erfahren die Menschen in Fukushima irgendeine Art von psychologischer Hilfe?

Nein, es gibt keine groß angelegten Hilfsprogramme. Vielmehr versucht der Staat, so zu tun, als wäre nun alles vorbei und wieder gut. Das unter den Teppich kehren macht die psychische Belastung für die Opfer nur noch schlimmer. Je mehr die allgemeine Stimmung im Land in Richtung «wir haben es geschafft» geht, desto schwieriger wird es für die Betroffenen, über ihre Situation zu sprechen. Ich glaube, viele Menschen sind so verletzt und traumatisiert, dass sie ihren Seelenzustand nicht offenbaren können. Es wird immer schwieriger, Leute zu finden, die noch bereit sind, in Interviews ihre Geschichte zu erzählen. Hier sehe ich auch eine Aufgabe für uns Journalisten: Wir müssen herausfinden, wie groß ihre seelischen Verletzungen tatsächlich sind. Ich will, dass die Welt davon erfährt. Nur so können wir aus dem Atomunfall lernen. Es reicht eben nicht zu sagen, die Strahlung geht zurück, die Menschen können nach Hause und alles ist wieder gut.

Auf einer Bühne sitzen vor einer weißen Leinwand zwei Männer mit Gesichtsmasken auf Stühlen sitzend. Einer der beiden spricht in ein Mikrofon.
Nach der Vorführung von «Fukushima Speaks» in der Hibiya-Bibliothek in Tokio Ende Februar 2021 spricht Toshikuni Doi mit seinem Kollegen, dem Regissuer Shinichi Ise, über den Film. Foto: Yasuyuki Takagi

Dass Tokio im Jahr 2013 die Olympischen und Paralympischen Spiele für 2020 zugesprochen bekam, hat Japan auch dem damaligen Premierminister Shinzo Abe zu verdanken, der versichert hatte, die Lage in Fukushima sei «unter Kontrolle». Stolz spricht die Regierung bis heute von den «Wiederaufbau-Spielen». Zwar mussten sie wegen der Covid-19-Pandemie verschoben werden, aber wenn sie diesen Sommer stattfinden, wird ein Teil der Wettkämpfe in Fukushima ausgetragen. Auch die olympische Fackel soll symbolträchtig durch die ehemalige Sperrzone getragen werden. Welche Rolle spielt Olympia bei diesem Prozess des kollektiven Vergessens?

Für die Regierung sind die Spiele ein hervorragender Anlass, der Welt zu demonstrieren, dass der Unfall ein abgeschlossenes Kapitel, also Geschichte ist. In den Medien wird nur noch neu aufgebaute Infrastruktur zu sehen sein, frei nach dem Motto: «Seht her, alles ist gut!» Der Grund, warum die Regierung so darauf drängt, mit dem Unfall und seinen Folgen abzuschließen, liegt auf der Hand: Es geht um Geld. Sobald ein Dorf aus der Sperrzone freigegeben wird, fallen alle Hilfszahlungen für die dortigen Bewohner weg – egal, ob die Menschen zurückkehren oder nicht. Außerdem will die Regierung nicht aus der Atomkraft aussteigen, weil sie glaubt, dass die Wirtschaft auf den Atomsektor angewiesen ist.

Die Regierung will die Olympischen Spiele als festlichen Anlass nutzen, um den Diskussionen über den Super-GAU und dessen Folgen ein Ende zu setzen. Im Moment ist allerdings fraglich, ob diese Inszenierung aufgeht. Denn wenn es heute um Olympia geht, redet niemand über Fukushima, alle reden nur noch von Covid-19. Wir Journalisten müssen die Erinnerung an den Atomunfall wachhalten. Nur so haben wir eine Chance, zu verhindern, dass sich diese Tragödie wiederholt. Die Gefahr ist real, denn Japan ist extrem erdbebengefährdet – und alle unsere Atomkraftwerke liegen an der Küste.

 

Herr Doi, ein Mann in mittleren Jahren, mit grauem Baart und grauen Haaren steht vor einer weißen Wand.
Toshikuni Doi

Toshikuni Doi, Jahrgang 1953, lebt als freischaffender Journalist und Filmemacher in Tokio. Seit den 1980er-Jahren berichtet er aus den Krisengebieten im Nahen Osten, hauptsächlich über das Schicksal der Menschen zwischen den Fronten. Vier Jahre lang begleitete Doi für seinen Dokumentarfilm «Fukushima Speaks» (2018) Opfer des Super-GAUs in ihrem Alltag. Mit seltener Offenheit berichten sie, wie der Unfall ihre Familien zerrüttet, sie ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlage beraubt und ihnen den Lebenswillen genommen hat. Für «Fukushima Speaks» wurde Doi unter anderem mit dem Filmpreis des japanischen Kulturamts ausgezeichnet.

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09. März 2021 | Energiewende-Magazin