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Westantarktis: Ist der Eisschild noch zu retten?

Die Glaziologin Angelika Humbert im Gespräch mit Benjamin von Brackel

Einige Eisschilde der Westantarktis verlieren immer schneller an Eismasse. Manche Wissenschaftler sehen bereits einen Kipppunkt überschritten.

Der Klimawandel zeigt sein Gesicht inzwischen überall auf der Welt. Doch Klimaforscher blicken mit besonderer Sorge ausgerechnet auf einen Erdteil, auf dem sich – zumindest mit bloßem Auge – noch relativ wenig Veränderungen ablesen lassen, da sich dort das Wesentliche unter der Eisoberfläche abspielt: die Westantarktis.

Seit einigen Jahren verlieren dort Eispanzer immer schneller an Masse. Einige Wissenschaftler halten es sogar für möglich, dass der Kipppunkt bereits überschritten ist, das heißt, dass sich der Eisverlust in der Region nicht mehr stoppen lässt. Wäre dem so, würde der globale Meeresspiegel in den nächsten Jahrhunderten um fünf Meter ansteigen – viele Küstenstädte und einige tiefliegende Küstenstaaten müssten dann aufgegeben werden.

Angelika Humbert vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven hat die Antarktis mehrfach bereist. Die Glaziologin interessiert sich insbesondere für die Mechanik von Gletschern und Eisschilden. Um zu verstehen, was mit dem mächtigen weißen Riesen gerade passiert, blickt sie sowohl von oben als auch von unten auf das Eis und entwickelt Computermodelle, die das Verhalten der Eisschilde simulieren. Zum Zeitpunkt des Gesprächs ist sie erst seit wenigen Tagen wieder zurück von einer Expedition in Grönland. Im Interview erklärt sie, worin sich die Eisschmelze dort von der in der Antarktis unterscheidet. Außerdem beantwortet sie die Frage, ob die Westantarktis bereits ihren Kipppunkt überschritten hat, und erläutert, welche Folgen das hätte und ob es überhaupt sinnvoll ist, darüber zu spekulieren.

 

Eine Frau mit schulterlangem, grau-meliertem Haar und Brille schaut interessiert, während sie eine Hand hebt.
Prof. Angelika Humbert Foto: Hanna Lenz

Frau Humbert, Sie sind mehrfach über die Antarktis geflogen, zuletzt im Jahr 2016. Was haben Sie von oben gesehen?

Der Anflug auf die Antarktis ist eines der faszinierendsten Erlebnisse, die man auf der Erde haben kann. Als Erstes tauchen Eisberge vor einem auf, die im Meer driften. Das können sehr viele sein wie vor dem «Thwaites-Gletscher». Diese schiere Menge an Eisbergen, die frisch abgebrochen sind und sich oftmals umgedreht haben, hat mich unglaublich beeindruckt. Danach folgen die Schelfeise, also die Eisplatten, die auf dem Meer schwimmen und von Gletschern gespeist werden.

Was haben Sie dort beobachten können?

Als Glaziologin schaue ich mir die Geometrie ganz genau an: die Risse, die Spalten, die Muster. Und überlege mir, wie diese sich entwickeln. Von weit oben ist deren Dimension natürlich schwer abzuschätzen. Was mir hilft, sind die Unebenheiten auf der Oberfläche, die durch Schneeverwehungen entstehen. Sie geben eine ungefähre Größenordnung wieder, mit der ich in etwa berechnen kann: Ah, diese Spalte ist jetzt doppelt oder zehnmal so breit. Später werten wir die Kameraaufnahmen natürlich genau aus.

Und wenn Sie weiter ins Innere der Antarktis fliegen?

Im Grunde ist dort alles weiß auf weiß. Manchmal bin ich 1.000 Kilometer geflogen und es hat sich kaum etwas verändert: immer dieselben weißen Dünen und Windverwehungen.

Haben Sie während der Flüge Anzeichen bemerkt, dass irgendetwas mit dem Eis nicht mehr stimmt?

Nein. Über Grönland ist das anders. Dort war ich übrigens vor zwei Wochen. Aus dem Flugzeug habe ich über manchen Orten gedacht: Auf dieser Höhe sollte eigentlich kein Schmelzsee sein. In der Westantarktis gibt es das auch, aber in viel geringerem Ausmaß, da es dort viel kälter ist. Das Entscheidende spielt sich dort unter der Eisoberfläche ab.

1978 hat der US-amerikanische Glaziologe John Mercer die Verletzlichkeit des Westantarktischen Eisschilds beschrieben und davor gewarnt, dass in 50 Jahren ein rapides Abschmelzen einsetzen werde. Ein erstes Anzeichen dafür wäre das Aufbrechen der Schelfeise an der Antarktischen Halbinsel. Erleben wir nun genau das?

Im Grunde ja. Von Norden nach Süden ist es auf der Antarktischen Halbinsel zu einem katastrophischen Ereignis nach dem anderen gekommen: Große Eisflächen sind einfach zerplatzt, ohne dass es dafür vorher Anzeichen gegeben hätte. Erst «Larsen A», dann «Larsen B», dann das «Wordie-Schelfeis». Die Spalten und das Wasser an der Oberfläche bieten dabei eine Einstiegsmöglichkeit, um große Schelfeisflächen zu zerstören. Aber nicht jeder Abbruch von Eis führt gleich zu dem von John Mercer beschriebenen Szenario. 

Wie meinen Sie das?

Der Abbruch eines Eisbergs am «Larsen C»-Schelfeis der doppelten Größe Luxemburgs hat nicht zur Instabilität des Eisschelfs geführt. Im Moment zumindest ist es ziemlich stabil. Auch in der Vergangenheit sind schon große Eisberge gekalbt, also abgebrochen. Das gehört zu einem gesunden System dazu. Es ist ein natürlicher Prozess. 

 

Eine topografische Abbildung der Antarktis: diverse Gletscher und Schelfeise sind mit Pfeilen beschriftet.
Eine aus zahlreichen Satellitenbildern der NASA errechnete Ansicht der Antarktis Quelle: Wikimedia / Blue Marble data set / Autor: Dave Pape

Was passiert, wenn ganze Eisschelfe verschwinden?

Die gute Nachricht ist, dass sie keinen direkten Einfluss auf den Meeresspiegel haben, da sie ja schon auf dem Meer aufliegen. Wenn sie abschmelzen, fügen sie dem Ozean praktisch keine zusätzliche Masse zu, ähnlich, wie wenn ein Eiswürfel im Glas schmilzt.

Aber gibt es auch eine schlechte Nachricht?

Wenn ein Schelfeis in einer Bucht liegt oder Inseln vor sich hat, dann entsteht eine seitliche Spannung und Reibung, wenn sich ein Gletscher aufs Meer hinausbewegt. Das übt eine Rückhaltekraft auf die Gletscher aus, die sich aus dem Landesinneren auf die Küste zubewegen – als wäre die Kalbungsfront dort festgenagelt. Wenn das Schelfeis aber ausdünnt, verringert sich die Rückhaltekraft. Damit erhöht sich die Geschwindigkeit der Gletscher aus dem Inland. Es fließt also mehr Eis in den Ozean und der Meeresspiegel steigt.

Wie unterscheidet sich die Eisschmelze in der Antarktis von der auf Grönland?

Beginnen wir damit, was beide verbindet: Überall, wo es schwimmende Eismassen gibt, schmilzt das Eis von der Unterseite. Das gilt sowohl für die Schelfeise in der Antarktis wie auch für die schwimmenden Gletscherzungen in Grönland. Was in Grönland einzigartig ist: Im Sommer ist es dort so warm, dass an manchen Tagen ein Großteil der Oberfläche schmilzt. Dann bilden sich gigantische Schmelzwasserseen und riesige Flüsse rauschen ins Meer. Selbst die kleinen Zuflüsse verwandeln sich dann in reißende Ströme. Das gibt es in dem Ausmaß in der Antarktis nicht – dort geht Eis aus anderen Gründen verloren.

Welche sind das?

Die Gletscher der Westantarktis sitzen zu großen Teilen auf Fels, und dieser liegt oft unter dem Meeresspiegel. Das heißt: Hier kann Wasser angreifen, wenn es sich erwärmt. Wichtig ist dabei vor allem die Neigung des Felsbodens. Immer dann, wenn sich die Topografie unter der Aufsetzlinie des Eises in Richtung des Inlandeises neigt, entstehen möglicherweise instabile Situationen. Denn allein aus mechanischen Gründen können sich die Gletscher dann leichter zurückziehen und sich beschleunigen.

Warum beschleunigen sich Gletscher in der Westantarktis wie «Thwaites» und «Pine Island» überhaupt so schnell, also mehrere hundert Meter pro Jahr?

Das hängt in erster Linie mit dem Gleiten des Eises über den Untergrund zusammen. Stellen Sie sich vor, Sie drehen einen Honigtopf um: Dann kriecht die viskose Masse auseinander. Wenn die Gletscher kriechen, nennen wir das Deformation. Aber das ist noch nicht alles. Stellen Sie sich vor, Sie würden nun den Tisch, auf dem Sie den Honig auskippen, zuvor mit Öl einreiben. Dann kann er sich noch besser ausbreiten, weil er da drüber gleitet. Und die Rolle dieses Gleitmittels übernimmt unter den Eisschilden das Wasser. Das heißt: Die Eisschilde schmelzen an vielen Stellen auch an der Unterseite. Selbst wenn das nur wenige Millimeter pro Jahr sind, hat das doch den Effekt eines Gleitmittels. Und wenn dieses Wasser unter dem Eisschild unter einem hohen Druck steht, kann das Eis noch leichter darüber gleiten.

Querschnitt der antarktischen Küste: vermerkt sind Strömungsrichtungen und die Positionen von Schelf- und Meereis.
Das Meereis vor der Schelfeiskante wirkt wie ein Schutzschild für den Kontinentalschelf: Es bildet kaltes Wasser mit hohem Salzgehalt und hält warmes Ozeanwasser davon ab, in die Kaverne unter dem Schelfeis einzudringen. Quelle: AWI / Illustration: Jana Evers
 Ein weiterer Querschnitt: Das Meereis hat sich deutlich verringert, das Schelfeis beginnt zu bröckeln.
So könnte es im Jahr 2070 aussehen: Durch die Klimaerwärmung verringert sich das Meereis vor der Schelfeiskante, es bildet sich weniger kaltes Wasser. Warmes Ozeanwasser kann in die Kaverne eindringen und das Schelfeis von der Unterseite angreifen. Quelle: AWI / Illustration: Jana Evers

Woher wissen Sie, was unter dem Eis passiert?

Ich habe in einem Computermodell erstmals für die gesamte Antarktis die Bewegung der Eisschilde und das darunterliegende hydrologische System simuliert, also etwa den Wasserdruck unter dem Eis. Die Ergebnisse wollen wir demnächst publizieren. Das Problem ist, wir haben nicht genügend Messwerte. Dazu müssten Sie ja erst einmal durch das ganze Eis durchbohren, um den Druck und die Menge an Wasser messen zu können. Da ranzukommen ist unglaublich schwierig. 

Und wie kommen Sie dann zu den Daten? 

Ende der 1990er-Jahre hat mal ein deutscher Physiker namens Hermann Engelhardt den «Whillans-Eisstrom» mit Heißwasser durchbohrt. Dabei maß er auch die Geschwindigkeit des Gletschers, und die war damals an der Unterseite genauso groß wie an der Oberseite. Das heißt: Das Gleiten ist also der wesentliche Prozess. Meine Kollegen haben auch den Eisschild in der Antarktis durchbohrt, das war im Jahr 2006. Dabei konnte man ebenfalls nachweisen, dass sich unter dem fast 3.000 Meter dicken Eis eine Wasserschicht befindet. Aber auch mithilfe von seismischen Methoden, Radar oder Höhenmessungen wurde eine große Menge an Seen unter den Gletschern der Antarktis entdeckt. Es gibt ein sehr ausgedehntes subglaziales hydrologisches Regime, auch in der Region um den Thwaites-Gletscher. Die Drainagen solcher Seen können zum Massenverlust beitragen – zusätzlich zum warmen Ozeanwasser, das die Schelfeise aushöhlt. 

Wie entstehen die Seen unter dem Eis überhaupt? Ist es in der Antarktis dafür nicht zu kalt?

Nein, unten am Fels ist es ja warm! Dort gibt es einen geothermalen Wärmestrom, der aus dem Erdinneren über den Fels ins Eis eindringt. Im Grunde sitzt das Eis auf einer Heizplatte. Da ist es nicht gigantisch warm, aber deutlich wärmer als an der Eisoberfläche, wo es im Jahresmittel minus 30 bis 60 Grad Celsius kalt ist. Die kilometerdicke Eismasse wirkt zudem isolierend und setzt den Schmelzpunkt des Eises am Fels herunter. Das Eis schmilzt deshalb nicht erst bei null Grad, sondern vielleicht schon bei minus einem Grad. Außerdem erzeugt die Reibung beim Gleiten zusätzliche Wärme.

Eine Satellitenaufnahme des Larsen-B-Gletschers, der sich wie eine riesige Landzunge ins tiefschwarze Meer schiebt.
Im Januar 2022 brach innerhalb weniger Tage eine riesige Eisfläche des Larsen-B-Gletschers ab. Bild: Joshua Stevens / NASA Earth Observatory / MODIS / NASA EOSDIS LANCE & GIBS / Worldview
Eine weitere Satellitenaufnahme desselben Gletschers: Ein große Eisfläche ist abgebrochen und driftet ins Meer.
Eine 3.250 Quadratkilometer große Schelfeisfläche zersplitterte und trieb von der Küste weg. Bild: Joshua Stevens / NASA Earth Observatory / MODIS / NASA EOSDIS LANCE & GIBS / Worldview

Im Klimathriller «Das Ministerium für die Zukunft» von Kim Stanley Robinson pumpen Ingenieure das Wasser unter dem Eis der Antarktis nach oben, wo es wieder gefriert, um die Gletscher zu bremsen. Ist das reine Fiktion oder wäre das vielleicht ein gangbarer Weg, um in Zukunft Zeit zu gewinnen?

Selbst ein einzelnes Bohrloch erfordert unter den extrem harschen Bedingungen in der Antarktis einen gigantischen logistischen Aufwand, denken Sie an die heftigen Stürme! Und es wäre mir vollkommen unklar, wie so etwas in großem Maßstab funktionieren sollte: Aufbau, Spritbeschaffung, Betrieb der Generatoren. Ich würde mich ungern darauf verlassen müssen.

Die Seen unter den Gletschern sind ja nichts Neues. Was also versetzt Gletscher wie Pine Island und Thwaites ursächlich so stark in Bewegung?

Im Prinzip liegt das an den warmen Wassermassen, die durch eine Veränderung der Ozeanzirkulation bis zum Kontinentalschelf eindringen, das Schelfeis so von unten aushöhlen und dünner machen. Und wenn es dünner wird, schrumpft die Rückhaltekraft. Über die Jahre 2015 und 2016 waren wir für 43 Tage mit mehreren Motorschlitten am «Filchner-Ronne-Schelfeis». Das ist das zweitgrößte Schelfeis der Antarktis und ungefähr so groß wie Schweden. Dort haben wir beispielsweise mithilfe von Radargeräten an der Unterseite des Schelfeises die Schmelzraten gemessen, denn diese kennen wir nur an ganz wenigen Stellen der Antarktis. Wir wollten überhaupt erst einmal eine Datengrundlage schaffen, um Veränderungen in der Zukunft bewerten zu können. Im Jahr darauf haben Kollegen von mir noch einmal die gesamte Strecke abgefahren und die Messungen wiederholt. Damit konnten wir die Schmelzraten ableiten.

Was kam dabei heraus?

Für mich war das verblüffendste Ergebnis, dass in einem sogenannten Schmelzkanal die Schmelzraten gar nicht so hoch sind wie erwartet. Solche Kanäle standen eine Zeit lang im Verdacht, zur Instabilität von Schelfeisen beizutragen. Unsere Studie zeigt auch, dass man eigentlich über viele Jahre solche Messungen machen müsste, aber das wäre natürlich ein enormer Aufwand.

Vor der Küste treibt ein Eisberg im Meer – verglichen mit dem gigantischen Gletscher dahinter wirkt er winzig.
Ein Eisberg vor der Antarktischen Halbinsel Foto: Thomas Ronge / Alfred-Wegener-Institut (AWI)
Aus der Vogelperspektive: An der Seitenkante leuchtet das riesige Schelfeis hellblau.
Nahaufnahme der Kante des Thwaites-Schelfeises. Die hellblauen Bereiche des Eises bestehen aus dichterem, komprimiertem Eis. Foto: James Yungel / NASA

Die Aufsetzlinien von Gletschern wie Thwaites und Pine Island ziehen sich inzwischen um mehrere Kilometer pro Jahr zurück. Gletscher des Westantarktischen Eisschilds verlieren jährlich mehrere Meter an Höhe und ziehen sich Hunderte Kilometer ins Landesinnere zurück. Der Eisverlust beschleunigt sich. Heißt das, dass sich die Ozeane unweigerlich um mehrere Meter heben werden und somit zahlreiche Küstenstädte dem Untergang geweiht sind?

Der Meeresspiegel erhöht sich eindeutig, und zwar nicht überall auf der Welt im gleichen Ausmaß. Verliert die Antarktis an Masse, steigt der Meeresspiegel eher in der nördlichen Hemisphäre, während er rund um den Eisschild abnimmt. Das Südpolarmeer wird nämlich von der gigantischen Menge an Eis regelrecht hochgezogen. Nimmt die Masse ab, schwächt sich der Effekt ab und der Meeresspiegel sinkt lokal. Wie stark in Zukunft die Antarktis zum globalen Meeresspiegelanstieg beitragen wird, hängt davon ab, wie viel Schnee auf die Antarktis fällt. Durch die globale Erwärmung schneit es womöglich in Zukunft mehr.

Wie kann das sein?

Wenn es wärmer wird, dann befindet sich mehr Feuchtigkeit in der Luft, durch die wiederum mehr Niederschlag gebildet werden kann. Auch wenn das nur wenige Prozent pro Grad Erwärmung sind, macht das über die riesige Fläche der Antarktis einen enormen Unterschied. Die spannende Frage lautet: Wird die Antarktis in naher Zukunft mehr Masse verlieren, als sie gewinnt, wenn die Erderwärmung zu noch höheren Temperaturen führt?

Wie sieht die Bilanz derzeit aus?

Die Antarktis verliert heute deutlich an Masse. Im Vergleich zu Grönland ist sie immer noch der Juniorpartner beim Meeresspiegelanstieg. Aber sie hat insgesamt das größere Potenzial, da sie viel mehr Masse besitzt. Entscheidend ist dabei die zeitliche Dimension.

Inwiefern?

Dass sich die Schelfeise zuletzt so rasant verändert haben, liegt an den Rissprozessen. Sprödrisse breiten sich mit einem Drittel der Schallgeschwindigkeit aus. Die Frage ist, wie sich das weiterentwickelt. Allerdings können unsere Modelle die Bruchprozesse derzeit noch nicht gut genug wiedergeben. Wir wissen auch nicht, wie schnell und wie stark sich die Schmelzraten aufgrund der Wärme im Ozean verändern werden. Nur wenigen Ozeanmodellen gelingt es, die Dynamik unter dem Schelfeis in hoher Auflösung abzubilden.

Es wurde bei einzelnen Gletschern in der «Amundsensee» nachgewiesen, dass die Aufsetzlinie bereits die Spitze der Bodenerhebung überschritten hat und es von nun an bergab geht. Lässt sich dort ein Rückzug überhaupt noch stoppen?

Es geht ja nicht nur bergab: Immer mal wieder gibt es kleinere Hügel auf der hangabwärts geneigten Topografie. Die Frage ist, ob diese es schaffen, die Gletscher wieder zu stabilisieren. Dazu gibt es bislang nur Simulationen.

Die Frau mit den grau-melierten Haaren sitzt auf einem Stuhl, an einer Wand hinter ihr stehen große Topfpflanzen.
Angelika Humbert im Alfred-Wegner-Institut in Bremerhaven Foto: Hanna Lenz

Bereits im Jahr 2014 kamen mehrere Studien zu dem Ergebnis, dass der Eisrückzug in manchen Gebieten der Westantarktis bereits im Gange ist. Nochmals: Ist das nun ein Selbstläufer? Ist damit ein Kipppunkt überschritten?

Das denke ich nicht. Große Veränderungen bedeuten nicht zwangsläufig, dass bereits ein Kipppunkt überschritten sein muss, sich der Eisschild also irreversibel verändert und Eis verliert, welches danach nicht mehr zurückgebildet werden kann. Zu bewerten, ob der Kipppunkt überschritten ist oder nicht, ist alles andere als trivial. Woran will man das festmachen? Ja, wir beobachten bereits, dass sich der Massenverlust in der Antarktis beschleunigt – das ist kein linearer Trend, sondern eine Beschleunigung. Aber deshalb muss noch nicht der Kipppunkt überschritten sein. Und auch wenn wir den Kipppunkt in der Westantarktis noch nicht erreicht haben: Der Meeresspiegel steigt aufgrund des Massenverlusts bereits jetzt – und auch wir merken das schon an unseren Küsten.

Steht denn zumindest die Ostantarktis besser da?

Sie verliert jedenfalls weniger an Masse. Und das liegt vor allem daran, dass dort der überwiegende Teil der Eisflächen auf Land aufliegt. Es gibt auch Gletscher wie den «Totten-Gletscher», der große Mengen an Eis verliert, aber insgesamt ist das System bislang relativ stabil.

Dem aktuellen Bericht des Weltklimarats IPCC zufolge dürfte ein Kipppunkt in der Westantarktis erreicht werden, wenn sich die Welt zwischen eineinhalb und zwei Grad Celsius im Vergleich zum Beginn der Industrialisierung erwärmt hat. Was würde dann passieren?

Das ist schwer zu prognostizieren, was an den Schwächen der Simulationen liegt. In diesen entwickeln sich Atmosphäre und Ozeane je nach unterschiedlichen Emissionsszenarien. Man wendet dann diese Szenarien in Eismodellen auf die Eismassen an und simuliert, wie sich die Gletscher zurückziehen. Das gelingt bisher noch nicht so gut. Viele Unsicherheiten stecken in den Parametern, aber auch im fehlenden Verständnis für die physikalischen Abläufe. Der Modellierer und Fernerkunder Ian Joughin aus den USA hat die Entwicklung des Pine-Island- und des Thwaites-Gletschers berechnet. Hierfür simulierte er einen Pfad, der in eine Instabilität des Westantarktischen Eisschilds münden würde.

Was kam dabei heraus?

Das Ergebnis war, dass der Anfang jenes Entwicklungspfades mit den heutigen Beobachtungen übereinstimmt. Joughin schlussfolgert deshalb, dass der Westantarktische Eisschild bereits auf einem instabilen Pfad sei. Man kann das so machen wie er, aber es gibt wie gesagt große Unsicherheiten.

Von rechts schiebt sich ein rot-weiß-blaues Flugzeug in das Gletscher-Panorama, darunter befindet sich eine Landebahn.
Die «Polar 6» – das Forschungsflugzeug des Alfred-Wegner-Instituts Foto: Michael Fischer / AWI

Sie glauben nicht, dass der Kipppunkt für den Westantarktischen Eisschild bereits überschritten ist?

Ich sehe bislang kein katastrophisches Ereignis ähnlich der zerplatzenden Schelfeise. Als Expertin für die Mechanik von Gletschern und Eisschilden würde ich erwarten, dass sich nach einem Überschreiten eines Kipppunkts die Rissfelder auf großer Fläche ausbreiten und das System eine andere Charakteristik annimmt. Im Augenblick sehe ich nur, dass Masse verloren geht, die Gletscher schneller werden und sich zurückziehen. All das ist schon besorgniserregend genug und bereitet uns immer größere Probleme – unabhängig davon, ob ein Kipppunkt überschritten ist oder nicht! Seit dem Jahr 1990 hat der Massenverlust der Antarktis bereits zu einem Meeresspiegelanstieg von 75 Millimetern beigetragen. Das können wir nicht mehr rückgängig machen. Und selbst wenn wir von heute auf morgen kein CO2 mehr ausstoßen, würde es Jahrzehnte dauern, bis sich der beschleunigte Massenverlust in der Antarktis wieder abschwächt.

Warum ist das so?

Ein gutes Beispiel dafür findet sich auf Grönland mit dem «Jakobshavn-Gletscher»: Für einige Jahre strömten kältere Wassermassen ins Fjord. Der Eisverlust stieg daraufhin zwar nicht weiter an, blieb aber auf etwa demselben Level – und der Gletscher ist nicht so langsam geworden, wie er vor der Beschleunigung war. Das liegt an der Mechanik, den Gleiteigenschaften und der internen Variabilität des Systems.

Und was ist nun mit dem Kipppunkt?

Ich finde, wir dürfen auf keinen Fall Däumchen drehen, nur weil wir nicht genau wissen, ob der Kipppunkt überschritten ist oder nicht. Das wäre das Schlimmste, was wir tun könnten! Stattdessen sollten wir endlich aus den Puschen kommen und unseren Treibhausgasausstoß rapide senken, denn die Auswirkungen der globalen Erwärmung auf die Gletscher weltweit sind gigantisch.

Inwiefern?

Das Katastrophalste wäre im Falle des Thwaites-Gletschers, dass er komplett verloren geht. Dann reden wir von weltweit durchschnittlich 65 Zentimetern Meeresspiegelanstieg.

Können wir den Eisverlust denn noch stoppen?

Das hängt davon ab, wie die Ozeane reagieren. Denn entscheidend für den Massenverlust in der Antarktis ist das Abschmelzen der Schelfeise von unten. Es kommt also auf die Eigendynamik des Eises an, aber auch auf die Zeit, die ein Ozean braucht, um auf eine Veränderung im Klimasystem zu reagieren. Wenn man aber sieht, wie stark sich die Eisströme beschleunigen, steht zumindest zu befürchten, dass die Westantarktis ihre Balance verloren hat.

 

Angelika Humbert

Angelika Humbert, 1969 in Darmstadt geboren, ist Professorin für Eismodellierung an der Universität Bre­men und Glaziologin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremer­haven. Dort leitet sie eine Forschungsgruppe zur Eismodellierung und Fern­erkundung von Eisschilden. Angelika Humbert hat Physik an der TU Darmstadt studiert und im Fachbereich Mechanik zu Schelfeisen promoviert. Sie nahm mehrfach an Expeditionen in die Arktis und Antarktis teil.

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21. November 2022 | Energiewende-Magazin