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«Wir brauchen drastische Veränderungen»

Die Soziologin Anita Engels im Gespräch mit Christopher Schrader

Erreichen wir die Klimaziele? Noch bremsen gesellschaftliche Kräfte die dazu nötige Transformation aus, zeigt eine neue Analyse. Manches aber macht Mut.

Die Klimadebatte befindet sich in einem oft unüberbrückbar wirkenden Zwiespalt: Einerseits bekräftigt der Weltklimarat IPCC – und beteuern Politiker –, die Erderwärmung lasse sich noch auf 1,5 Grad Celsius begrenzen. Gerne wird dabei der Begriff «große Transformation» verwendet, um zu betonen, dass sich dazu praktisch alles in Wirtschaft und Gesellschaft ändern muss. Andererseits blicken viele Fachleute, Umweltgruppen und Initiativen wie «Fridays for Future» darauf und sagen, dass das nicht funktionieren könne: Da man immer wieder feststellen muss, wie wenig tatsächlich passiere. 

Diese Diskrepanz hat eine Arbeitsgruppe an der Universität Hamburg zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit gemacht: Das Exzellenzcluster «Climate, Climatic Change, and Society» (CLICCS) stellt die mangelnde Reaktion der Gesamtgesellschaft auf die Klimakrise in den Mittelpunkt. Dabei dienen die Sozialwissenschaften nicht als fünftes Rad am Wagen der ansonsten stark naturwissenschaftlich geprägten Klimaforschung, sondern als integraler, unverzichtbarer Bestandteil der Analysearbeit. Rund drei Dutzend Fachgebiete sind in der Arbeitsgruppe vertreten – von der Biogeochemie bis zur Friedensforschung, von Meteorologie bis Jura und Betriebswirtschaftslehre sowie von der Philosophie bis zur Fernerkundung mit Satellitentechnik. 

Eine Ko-Sprecherin dieses Exzellenzclusters ist die Soziologieprofessorin Anita Engels, die im Juni 2021 gemeinsam mit dem Forschungsteam den ersten «Hamburg Climate Futures Outlook» vorgelegt hat. In diesem Bericht spürt das Team der sozialen Dynamik und der Reaktion unserer Gesellschaft nach, die sich mit den lokalen wie globalen Auswirkungen des Klimawandels und den Initiativen von Politik und Umweltgruppen konfrontiert sieht. Kurzes Fazit: Die gesellschaftliche Reaktion genügt nicht, um den Klimawandel ernsthaft zu bekämpfen – jedenfalls noch nicht, wie die Analyse ausführt. 

Engels lädt zum Gespräch in ihr Büro ein. Es befindet sich im Dachgeschoss eines Unigebäudes, das Pferdestall genannt wird, weil es vor langer Zeit mal einer war. Von ihren Fenstern aus blickt man auf das Areal, auf dem die von den Nazis zerstörte Bornplatzsynagoge wieder aufgebaut werden soll. Während in den unteren Stockwerken die Möbelpacker am Werk sind, weil die Geschosse saniert werden, bleibt Engels’ Klause unterm Dach von den Arbeiten und dem Lärm verschont. 

 

Frau Engels, bei der diesjährigen Klimakonferenz in Glasgow hieß es mal wieder, die Staaten wollten unbedingt das 1,5-Grad-Ziel «in Reichweite» halten. Was sagen Sie als Soziologin: Sollten und können wir es überhaupt erreichen?

Dass wir es erreichen sollten, also als normative Vorgabe, da stimmen wir im Forschungsteam – als Privatleute – sicherlich alle zu. Aber das war nicht unsere Ausgangsfrage. Uns interessierte auch nicht, ob und wie es möglich ist oder welche politischen und technischen Mittel die Weltgemeinschaft dazu benötigt. Sondern wir wollten wissen, ob es plausibel ist, also realistisch zu erwarten, dass die Gesellschaft unter den jetzigen Rahmenbedingungen diesen Weg tatsächlich einschlägt. 

Und?

Nein, es ist zurzeit nicht plausibel, dass wir bis 2050 eine tiefe Dekarbonisierung schaffen. 

Was genau heißt das: tiefe Dekarbonisierung?

Dafür müssen die fossilen Energieträger auf Kohlenstoffbasis – Kohle, Erdöl, Erdgas – komplett aus unserem Alltag verschwinden und ersetzt werden. Es gibt einige Faktoren, die wir als mögliche «Treiber» einer solchen Veränderung ansehen. Manche von ihnen zeigen auch schon in die richtige Richtung, sind aber noch nicht stark genug. Andere bremsen die Veränderung.

Frau mit beeindruckenden Locken lebendig gestikulierend im Gespräch
Anita Engels Foto: Maria Feck

Das klingt bitter. Müssen wir also vom 1,5-Grad-Ziel Abschied nehmen?

Unsere Analyse schärft jedenfalls den Blick dafür, wo wir dringend vorwärtskommen müssen. Wir haben in der sozialwissenschaftlichen Klimaforschung immer wieder damit zu tun, dass unsere Kolleginnen und Kollegen aus den Naturwissenschaften seit Jahrzehnten vor dem Klimawandel warnen und zunehmend frustriert sind, weil in der Politik nichts Entscheidendes passiert. Bis heute können wir an keiner Stelle diesen Knick in den Emissionen sehen, der eigentlich schon längst hätte eintreten müssen. Wir wissen zwar, auch anhand vieler Studien, dass es im Prinzip möglich ist, diese schnelle Kursänderung herbeizuführen. Die technologischen Möglichkeiten dafür sind vorhanden, allerdings passiert in der Gesellschaft nicht genug. 

Verstehen Sie das als wertfreie Aussage oder als Signal?

Wir sehen das als Weckruf. Wenn sich nichts ändert, verfehlen wir die Pariser Klimaziele.

So wie Sie das sagen, erinnert es ein wenig an eine Aussage von Oliver Geden von der «Stiftung Wissenschaft und Politik». Er hat vor einigen Jahren gefordert, dass Wissenschaftler nicht länger sagen sollten: «Es ist noch möglich, die Klimaziele zu erreichen, wenn …» Sie müssten stattdessen erklären: «Wir werden die Klimaziele verfehlen, wenn nicht …» Der erste Satz lässt sich nämlich gefährlich abkürzen. Wer unbedingt ein positives Bild zeichnen und von der Notwendigkeit ablenken will, endlich zu handeln, lässt einfach den Nebensatz weg. 

Genau das haben wir uns für den «Hamburg Climate Futures Outlook» zu Herzen genommen. Wir wollten eben nicht noch einmal in einer Studie zeigen, dass wir es immer noch schaffen können, sondern die Hemmnisse klar herausarbeiten und dann die nüchterne Frage stellen: Wie plausibel ist das im Rahmen der Gegebenheiten? Und die Antwort lautet: Es ist nicht plausibel! Das bedeutet konkret, dass wir es nicht schaffen, wenn nicht ganz drastische Veränderungen eintreten.

Sie sagen, es sei nicht plausibel, dass die nötige Transformation bis 2050 erreicht wird. «Plausibel» klingt weniger nach einem sozialwissenschaftlichen Fachbegriff, sondern eher wie etwas, was man im Kneipengespräch sagen würde.

Den Begriff haben wir sehr bewusst so gewählt. Die gesellschaftlichen Dynamiken im Kontext dieses Transformationspfads sind extrem vielseitig und stehen in komplexen Wechselverhältnissen zueinander. Daher können wir nur versuchen, so genau wie möglich einzuschätzen, ob ein bestimmtes Szenario «plausibel» ist. Natürlich hätten wir am liebsten die Frage gestellt: Wie «wahrscheinlich» ist es, dass die Gesellschaft die grundlegende Umstellung rechtzeitig hinbekommt? Aber wir wissen, dass sich das schlicht nicht berechnen lässt. Wir können das nur theoretisch herleiten und dann auf der Grundlage der verfügbaren empirisch gewonnenen Belege so genau wie möglich abschätzen. 

Eine Frau mit langen, grau melierten Locken spricht und gestikuliert mit beiden Händen.
Foto: Maria Feck

Aber wenn es nicht plausibel ist, könnten wir dann wenigstens sagen, die Wahrscheinlichkeit ist kleiner als 50 Prozent?

Ja, wahrscheinlich könnten wir uns auf so etwas einigen. Uns geht es jedoch nicht so sehr um eine Momentaufnahme, sondern vielmehr darum, welche Trends, welche Dynamiken sich beobachten lassen. Wir haben uns gefragt: Was ist bei einem dieser Treiber eigentlich nötig, damit er einen Schwellenwert, also einen Kipppunkt, erreicht? Gemeint ist, dass dieser Sektor der Gesellschaft oder Wirtschaft danach von allein und sozusagen unaufhaltsam die Transformation vorantreibt, die wir brauchen. 

Also wie eine Tonne, die wir zurzeit noch den Berg hinaufrollen, aber oben angelangt, rollt sie auf der anderen Seite von allein wieder hinunter? Haben Sie hierfür ein Beispiel?

Lassen Sie mich das am Thema «Divestment» erläutern: Divestment ist der Versuch, dem gesamten fossilen Wirtschaftsbereich die Finanzierungsgrundlage zu entziehen. Wenn die Firmen kein Kapital und keine Kredite mehr haben, können sie schlicht keine Kohleminen oder Ölplattformen mehr betreiben. Und beim Treiber Divestment gehen wir davon aus, dass es solch einen Schwellenwert gibt. Wenn der überschritten ist, sind im Grunde alle Geldgeber gezwungen mitzumachen. Sie riskieren sonst, dass ihre Investition zu einem sogenannten «Stranded Asset» wird, sich bereits in wenigen Jahren als verlorene Investition erweist. 

Sind wir da schon?

Nein, an dem Punkt sind wir noch nicht. Wir müssen im Moment leider sagen, dass wir davon sogar noch ziemlich weit entfernt sind, auch wenn die Medien immer wieder sehr prominent berichten, dass eine Bank oder ein Pensionsfonds oder ein anderer großer institutioneller Investor ankündigt, sein Kapital aus dem fossilen Bereich abzuziehen. Aber daneben gibt es auch noch viele Firmen, die nicht börsennotiert sind und keinen Berichtspflichten unterliegen. Und es gibt Staaten, die nicht offenlegen, wie sie beispielsweise ihre Pensionsfonds anlegen. Da greift Divestment dann nicht.

Insgesamt haben Sie zehn solcher Treiber analysiert.

Wir haben sie theoretisch hergeleitet und dann empirisch gefragt, wie stichhaltig es ist, dass sie schon in Richtung Dekarbonisierung weisen – oder eben nicht. Keiner dieser Treiber hat bereits den Schwellenwert erreicht. Sechs davon wie das Divestment zeigen wenigstens in die richtige Richtung: die internationale Klimapolitik, überstaatliche Initiativen, nationale Gesetzgebung, Wissenschaft und Wissensproduktion sowie die Klimaklagen. 

Fotocollage aus Silhouetten von Personen und Pfeilen vor einem blau-grünen Farbverlauf.

Die zehn gesellschaftlichen Treiber

Aus der Studie «Hamburg Climate Futures Outlook»

Zehn Elemente und Faktoren gesellschaftlicher und politischer Entwicklung hat das Hamburger Forschungsteam «Climate, Climatic Change, and Society» (CLICCS) genauer daraufhin untersucht, welchen Einfluss sie auf eine angemessene Reaktion auf die Klimakrise haben. Der Bericht vom Juni 2021, der jährlich aktualisiert werden soll, fragt für jeden der folgenden «Treiber» konkret: Weist er in die richtige Richtung, entwickelt er ausreichend Dynamik, hat er womöglich schon einen Punkt erreicht, ab dem er sich von selbst weiter verstärkt? 

Sechs der zehn Faktoren weisen in die richtige Richtung, sind aber noch nicht stark genug

  1. Internationale Verhandlungen und Verträge unter dem Dach der Vereinten Nationen: Dazu zählen vor allem das Pariser Abkommen und die regelmäßigen Klimakonferenzen wie zuletzt in Glasgow, bei denen die Staaten ihre Ziele höherstecken und Maßnahmen vereinbaren. 
  2. Transnationale Initiativen, bei denen einzelne Staaten oder Kommunen freiwillig kooperieren, Umweltgruppen sich international koordinieren oder Industriebranchen wie die Luftfahrt Regeln für eine klimaneutrale Zukunft vereinbaren. 
  3. Gesetze, Regeln und Instrumente auf nationaler Ebene, die Treibhausgase begrenzen. Wichtige Beispiele sind der EU-Emissionshandel oder Gesetze zum Kohleausstieg, aber auch Zulassungsbedingungen für Autos oder Regeln für Tierhaltung. 
  4. Klimaklagen: Versuche von betroffenen Bürgern oder Staaten, vor Gericht Urteile gegen Firmen oder  Regierungen zu erwirken, die sie zu stärkeren Emissionsminderungen oder Schadenersatzzahlungen zwingen. 
  5. Das Schaffen von Wissen über Ursachen, Folgen und Lösungen der Klimakrise, zum Beispiel durch den Weltklimarat IPCC und Institute wie in Wuppertal oder Potsdam und durch Sammlungen von Ideen und Ansätzen wie bei den «Geschichten des Gelingens» von «Futurzwei».
  6. Divestment: Darunter versteht man den von vielen Gruppen der Zivilgesellschaft gestarteten Versuch, Unternehmen der Fossilwirtschaft das Kapital zu entziehen und Kredite an sie zu verhindern. Das unterbindet weitere Investitionen, weil das wirtschaftliche Risiko zu groß wird.

    Zwei Faktoren weisen in die falsche Richtung 

  7. Die Reaktionen der Wirtschaftsunternehmen: Dazu gehören zwar einerseits Aktivitäten, die Produktion klimaneutral zu gestalten, etwa Prozessverbesserungen und das Einwirken auf Lieferketten, andererseits
    aber eben auch alle Versuche, staatliche Regulierungen zu behindern.  
  8. Konsummuster: Dazu zählen alle Anschaffungen privater Haushalte vom Auto bis zum Steak. Hier spielen oft unhinterfragte (unbewusste) Übereinkünfte eine Rolle, was genau ein «gutes Leben» ausmacht. Die Art des Konsums ist dabei von einer enormen globalen Ungleichheit geprägt.

    Bei den letzten beiden Faktoren lässt sich die Wirkung bislang nicht abschließend klären  

  9. Journalismus: Berichte zur Klimakrise sowie zu den Ursachen und Folgen der Erderwärmung können womöglich Einstellungen und Handlungsabsichten des Publikums beeinflussen – sei es in die eine oder in die andere Richtung.
  10. Klimaproteste und soziale Bewegungen für Klimaschutz: Dazu gehören Gruppen wie «Fridays for Future» oder «Extinction Rebellion», die das Thema immer wieder in die Öffentlichkeit tragen.

Also Entscheidungen wie der Beschluss des Bun­desverfassungsgerichts im April 2021. 

Zum Beispiel. Solche Urteile sind wichtig, aber noch nicht umfassend genug. Und zudem weisen die Reaktionen der Wirtschaft und die Konsummuster in die falsche Richtung. Beim Journalismus und den internationalen Protestbewegungen können wir zurzeit noch nicht genau sagen, welchen Einfluss sie ausüben. Vermutlich sind sie aber eher nicht hemmend.

Die Protestbewegung war doch zumindest hierzulande sehr erfolgreich und hat vermutlich die Klimakrise zu einem der zentralen Themen im Bundestagswahlkampf gemacht.

Ja, in Deutschland gibt es eine starke Protestbewegung. Und im theoretischen Modell besitzt das auch einen sehr großen Stellenwert, denn Politik reagiert, zumindest in den demokratisch verfassten Gesellschaften, auf einen derartigen Druck. Bei uns haben sich 2019 «Fridays for Future» und viele andere Protestgruppierungen zusammengeschlossen. Dieser Tatsache haben wir sicherlich das Klimaschutzgesetz zu verdanken.

Welches nach dem Urteil in Karlsruhe nachgebessert werden musste. 

Allerdings haben wir dann bei der Bundestagswahl gesehen, dass ehrgeizige Klimapolitik noch nicht das Anliegen aller ist. So klar, wie es die großen Demonstrationen bei «Fridays for Future» nahegelegt haben, war das Mandat bei der Wahl eben nicht. Und außerdem müssen wir berücksichtigen, dass in vielen anderen Ländern die Klimabewegung bei Weitem nicht so stark aktiv ist wie hier. Global betrachtet sind Proteste noch kein Treiber, der wirklich dafür sorgt, dass sich die Politik beim Klimaschutz deutlich verändert.

Und dann war und ist auch noch die Pandemie. 

«Fridays for Future» hat wegen Corona natürlich erschwerte Bedingungen. Aber auch ohne eine derartige Ausnahmesituation lassen sich solche Protestbewegungen nicht so einfach über viele Jahre auf hohem Niveau aufrechterhalten. Und ein letzter Punkt: Proteste gehen natürlich nicht immer nur in eine Richtung. Eine sehr starke Klimabewegung kann auch dazu führen, dass es eine ebenso starke Gegenbewegung gibt. 

 

Eine Demozug mit vielen jungen Leuten, von oben fotografiert.
Seit drei Jahren aktiv: die «Fridays for Future»-Bewegung – hier 2019 in Leipzig Foto: Hanna Lenz

 

Wie die «Gelbwesten» in Frankreich?

Das ist das Beispiel, das einem sofort in den Sinn kommt. Wir müssen davon ausgehen, dass sich auch hier Proteste formieren und sehr lautstark werden können, wenn es jetzt eine sehr entschiedene Klimaschutzpolitik in Deutschland gibt. Die Folge wäre dann eine wachsende Polarisierung – und keine eindeutige Unterstützung mehr.

Das werden wir ja sehen, wenn die neue Regierung ihren Koalitionsvertrag in Sachen Klima abarbeitet. Sehen Sie in dieser Vereinbarung der Ampelparteien irgendwelche Fortschritte in Bezug auf Ihre zehn gesellschaftlichen Treiber?

Es gibt einige interessante Ansatzpunkte. So klingt zum Beispiel die Verankerung von Klimaschutz im Wirtschaftsministerium unter grüner Führung und mit einem sehr erfahrenen Staatssekretär vielversprechend, und für 2022 wurde eine Novelle des Klimaschutzgesetzes angekündigt. Auch ein möglicherweise vorgezogener Kohleausstieg ist im Gespräch. Aber noch lässt es sich nicht abschätzen, welche tatsächlichen Effekte durch die im Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen erreicht werden. Nach einer ganz großen Zeitenwende sieht es bisher nicht aus – insbesondere im Bereich Mobilität, bei der eine deutliche Kehrtwende vollzogen werden müsste. 

Ihre Analyse führt die internationale Politik als halbwegs positives Beispiel auf. Bei der Klimakonferenz in Glasgow haben sich aber die Staaten, inklusive Deutschland, zuletzt nicht gerade mit Ruhm bekleckert.

Was auf den Klimakonferenzen immerhin funktioniert, ist der Konsens über die Ziele. Schrittchen für Schrittchen werden diese verschärft. Jetzt lautet eines, die Erwärmung bei 1,5 Grad zu begrenzen, und ein anderes, Abschied von der Kohle zu nehmen – auch wenn in letzter Minute die Vereinbarung noch abgeschwächt wurde. Was nicht funktioniert, ist die Umsetzung: Die hierfür erforderlichen Instrumente setzen sich auf den Klimakonferenzen nicht durch, weil es immer starke Vetopositionen gibt.

So skeptisch viele Menschen wegen dieser Klimadiplomatie sind, so optimistisch verfolgen sie die Ankündigungen seitens der Wirtschaft. Es kommt einem vor, als würden ständig irgendwelche große Unternehmen sagen: «Wir machen das jetzt, wir nehmen das ernst, wir bauen um, wir verändern unsere Produktion.» Warum reicht das nicht? 

Bei solchen Meldungen geht es um wichtige Wirtschaftsakteure, nämlich die produzierenden Unternehmen. Einige davon stehen im Rampenlicht oder sind börsennotiert und bekommen deshalb besondere Beachtung. Die müssen sich diesem Problem stellen. Aber es ist wie beim Divestment: Es gibt weitaus mehr Unternehmen, die in der Öffentlichkeit deutlich weniger bekannt sind und ihrerseits keine Notwendigkeit sehen, sich in Richtung Klimaneutralität zu bewegen. Auch einige große Konzerne gehören dazu, die den Großteil der Emissionen verantworten.

 

Eine Frau mittleren Alters steht vor einer Betonwand und schaut nachdenklich in die Ferne.
Foto: Maria Feck

 

Warum zeigt dann das Divestment in die richtige Richtung, die Wirtschaft aber in die falsche?

Bei den Finanzströmen gibt es internationale Initiativen, die Divestment-Entscheidungen vorantreiben. Die Wirtschaftsbetriebe hingegen werden sich nur in die richtige Richtung bewegen, wenn sie durch Recht und Politik dazu gezwungen werden, wenn es öffentlichen Druck von einer sozialen Bewegung gibt und man die Unternehmen vielleicht gezielt boykottiert. Oder wenn die Finanzströme versiegen. Die Treiber sind nicht vollkommen unabhängig voneinander, es gibt viele Berührungspunkte und auch Wechselbeziehungen zwischen ihnen. 

Sehr nahe liegt auch die Beziehung zwischen Wirtschaft und Konsum. Beide zeigen in Ihrer Analyse in die falsche Richtung. Ist das unvermeidbar? 

Das augenblickliche Gewinnmodell ist darauf ausgerichtet, dass immer wieder das neueste Produkt gekauft werden muss. Bei der Textilbranche ist das genauso wie im Bereich der Elektronikgeräte. Es ist im Moment schwer vorstellbar, wie sich diese Unternehmen anders aufstellen könnten. Sie müssten sich ja dem Druck entziehen, jedes Jahr wieder ein neues Modell herauszubringen und darauf zu setzen, dass die alten Produkte weggeschmissen werden. Außerdem steigt mit dem Einkommenszuwachs der Menschen das Konsumniveau, und ein höheres Konsumniveau bedeutet fast automatisch auch einen höheren CO2-Ausstoß. 

Klingt fast hoffnungslos. 

Immerhin scheinen sich hier in Deutschland, zumindest in einigen Nischenbereichen, die Konsumgewohnheiten zu ändern. Es gibt einen Markt für klimafreundliche Produkte, für vegane Ernährung; Teile der Bevölkerung öffnen sich für diese Angebote. Zudem zeigt sich in dem Moment, in welchem die Energiepreise nach oben gehen, die Bereitschaft der Menschen, sich mit Alternativen auseinanderzusetzen. Es gibt mehr Offenheit für solche Experimente, etwa im urbanen Raum, wo es um Mobilität geht, oder bei der lokalen Energieversorgung. 

Wie weit reicht die Bereitschaft? Es gab kürzlich eine Umfrage, da war eine Mehrheit für ein Tempolimit auf der Autobahn, aber dagegen, dass Fleisch und Milch teurer werden. 

Fleischkonsum hat viel mit Identität zu tun. Und alles, bei dem die Identität eine zentrale Rolle spielt, ist sehr schwierig von außen zu verändern. Da müssen wir auf einen eher langfristigen Wandel setzen. Was nach Verbot klingt, hat keine Chance. Besser ist es, die Produktionsbedingungen so zu verändern, dass weniger Methan- und CO2-Emissionen entstehen. Aber eines ist doch auffallend: Überall wird nun über Fleischkonsum geredet. Das Thema ist bei vielen Menschen angekommen, sie müssen sich damit auseinandersetzen – und nicht nur, weil das die Grünen so wollen. Da bin ich sehr gespannt, ob das in den nächsten Jahren einen Wandel bewirkt. 

Oft kommt das Argument mit den Arbeitsplätzen und dem Wohlstand, wenn irgendjemand nur über Einschränkungen im Konsum nachdenkt. 

Natürlich muss Klimaschutz verbunden sein mit dem Aufbau von neuen Geschäftsfeldern und damit auch neuen Arbeitsplätzen. Sonst lässt sich das nicht vermitteln. Aber es ist doch zunehmend umstritten, ob wir für Wohlstand und das Gefühl, ein gutes Leben führen zu können, wirklich ständiges Wachstum, individuellen Profit und massenhaften Konsum als Grundmuster brauchen. Genau darauf beruht doch unser Wirtschaftssystem. Dagegen wenden sich viele Konzepte wie «Degrowth», Postwachstum oder Gemeinwohl-Ökonomie. Es könnte gut sein, dass diese Modelle viel bessere Vo­raussetzungen für Klimaschutz schaffen als das aktuelle Wirtschaftssystem. 

 

Kräne hieven Schiffscontainer in die Höhe, dahinter erstreckt sich grünes Land mit Windrädern.
Zwei der zehn gesellschaftlichen Treiber weisen in die falsche Richtung: die Reaktionen der Wirtschaftsunternehmen und unser Konsumverhalten. Foto: MacRein / Photocase

 

Müsste die «große Transformation» deswegen nicht deutlich über Reformen hinausgehen? 

Unbedingt. Aber Gesellschaften sind nur ungern bereit, sich auf solche Großexperimente einzulassen. Gemeinwohl-Ökonomie? Kein Wachstum mehr? Da schütteln auch viele aus der Wirtschaftswissenschaft den Kopf. Das wäre ein Plan ohne Vorbild. Für diese große Transformation, die wir benötigen, um die Pariser Klimaziele rechtzeitig zu erreichen, haben wir kein Beispiel.

Macht es das nicht gerade spannend für Sie als Soziologin? 

Ich bin ja nicht nur Wissenschaftlerin, sondern auch ein Mensch. Als soziologisches Thema bleibt einem das ein bisschen im Halse stecken, wenn davon gleichzeitig auch unsere langfristige Überlebensfähigkeit abhängt. 

Aber wenn die Gesellschaft bisher ein Hindernis für angemessenen Klimaschutz darstellt, was können wir dann tun?

Also ich kann ja in meinem Alltag sehr viel erreichen und meinen eigenen CO2-Fußabdruck deutlich verkleinern, wenn ich meinen Energieverbrauch senke und klimaneutrale Energie beziehe. Das geht zumindest bei Strom sehr, sehr leicht, auch für Mietparteien. In Großstädten ist es zudem ganz gut möglich, ohne Auto zurechtzukommen. Energie, Mobilität und Ernährung – das sind schon mal drei große Faktoren, die wir alle selbst ändern können. 

Laden wir nicht das Problem auf den falschen Schultern ab, also bei den Verbrauchern? Es wird doch schon endlos über das persönliche Verhalten gestritten. Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat dazu mal gesagt: «Es entscheidet sich nicht im Supermarkt, sondern im Parlament, welche Welt wir unseren Kindern hinterlassen.»

Das ist auch richtig! Aber wenn jemand sich anders verhält, dann gibt es nicht nur einen CO2-Einspareffekt. Bedeutsamer ist die Signalwirkung an die Politik, an mein Umfeld, an die nächste Generation. Je mehr Leute etwas ändern und das auch persönlich wichtig finden, desto mehr kann sich auch diese Signalwirkung ausweiten. Genauso wichtig ist es, sich strategisch aufzustellen. Ich versuche das immer so zu vermitteln: Wenn ich jetzt als Einzelne im Supermarkt versuche, ohne Plastikmüll und mit Bioprodukten CO2-neutral einzukaufen, ist das schön und gut. Aber wenn ich mich in der Nachbarschaft zusammenschließe, zum Beispiel über eine Nachbarschafts-App, und wir versuchen, unseren Einfluss dort geltend zu machen, wo wir einkaufen, und Änderungen am Angebot einfordern, dann hat das eine andere Hebelwirkung. 

Wer so handelt, ändert Stück für Stück die Gesellschaft?

Exakt. Wir können auch nicht nur auf der Straße protestieren, es gibt Online-Petitionen, Parteien und Initiativen, in denen man sich organisieren kann. Und wir sind in beruflichen Zusammenhängen unterwegs und können dadurch viele Organisationen von innen her beeinflussen. Unterm Strich gibt es ziemlich viel, was jede Bürgerin, jeder Bürger machen kann. Es ist dabei wichtig, dass wir uns nicht entmutigen lassen, wenn der eigene Beitrag nicht sofort das Gesamtbudget beeinflusst, weil er doch weniger stark ins Gewicht fällt. Aber: Wirklich klimafreundlich können wir alle nur handeln, wenn die Rahmenbedingungen dies erlauben und deutlich einfacher machen. Am Ende müssen sich viele Faktoren der Gesellschaft in Politik und Wirtschaft – eben die Treiber in unserem Modell – ändern, damit ein schneller und umfassender Abschied von den fossilen Energieträgern möglich wird. Technik und Naturwissenschaft allein können das nicht stemmen. 

 

Portrait einer Frau mit langen grau-melierten Locken vor einer Hofeinfahrt.
Prof. Anita Engels

Anita Engels, Jahrgang 1969, hat in Bielefeld studiert und promoviert. Über die Jahrtausendwende forschte sie für drei Semester an der Stanford University in Kalifornien. Heute ist Engels Professorin für Soziologie an der Universität ­Hamburg. Globalisierung und die Wechselwirkungen ­zwischen Umwelt und Gesellschaft sind die Schwerpunkte ihrer Arbeit. ­Anita Engels ist zudem Ko-Sprecherin des Exzellenzclusters «Climate, Climatic Change, and Society» (CLICCS) an der Universität Hamburg. 

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28. Januar 2022 | Energiewende-Magazin