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«Wo sind bloß all die Insekten hin?»

Der Biologe Bradford Lister im Gespräch mit Benjamin von Brackel

Bestürzende Beobachtungen auf Puerto Rico: Dort sind praktisch alle Insekten verschwunden – und mit ihnen viele weitere Arten. Liegt es an der Klimakrise?

Deutschland sorgt sich um seine Insekten. Seit einigen Jahren stellen Wissenschaftler einen dramatischen Schwund der Sechsbeiner fest. Und das nicht nur auf Feldern und an Ackerrändern, sondern auch in Wäldern und Schutzgebieten. Als Hauptursache gilt hierzulande die intensivierte Landwirtschaft – dem Klimawandel weisen die Ökologen bislang einen eher nachrangigen Effekt auf das Insektensterben zu. Anderswo auf der Welt, etwa in den Tropen, stellt sich die Lage dagegen völlig anders dar.

Auf Puerto Rico lässt sich das besonders gut beobachten: Bereits in den 1970er-Jahren hatte der US-Biologe Bradford C. Lister vom «Rensselaer Polytechnic Institute» in Troy, im Bundesstaat New York, die Karibikinsel bereist, um in deren einzigartigen Regenwald Echsen und Insekten zu studieren. 2011 kehrte er dann zurück auf die Insel – und machte eine erschreckende Entdeckung, die in der Fachwelt nun heiß diskutiert wird.

 

Herr Lister, Sie haben den «El Yunque National Forest» im Osten Puerto Ricos einmal als den schönsten Wald beschrieben, in dem Sie je gewesen sind. Eine «phantasmagorische Landschaft». Was meinen Sie damit?

Es ist wie ein verzauberter Wald. Er hat eine ganz besondere Atmosphäre und erinnert an einen Landschaftsgarten, ja an einen Garten Eden. Die Bäume sind wirklich riesig – als Mensch fühlt man sich dort ziemlich eingeschüchtert. Es ist trotzdem ein sehr angenehmes Gefühl, in diesen Wald einzutauchen – und ein Segen, dort arbeiten zu dürfen. Der Wald hat seinen Charme und seine Schönheit nie verloren.

Was hatte Sie 1976 erstmals dort hingeführt?

Ich wollte Saumfingerechsen untersuchen. Angesichts ihres Artenreichtums sind sie zu einer Art Modellspezies für die Ökologie und Evolutionsforschung geworden. Mich interessierte der Wettbewerb unter ihnen. Dafür musste ich aber auch wissen, was sie essen, weshalb ich zwischen den Bäumen Insekten, Spinnen und andere Gliederfüßer mit Klebefallen am Waldboden und mit Malaisefallen einfing. (Anmerkung der Redaktion: Bei Malaisefallen werden die Insekten in kleine Fangzelte gelockt und dort durch Alkohol betäubt und konserviert.)

Wann haben Sie das erste Mal bemerkt, dass sich dort etwas Grundlegendes verändert hat?

Im Sommer 2011. Damals reiste ich zusammen mit meinem Kollegen Andrés García erneut in den Regenwald, um Echsen und Insekten zu untersuchen. Und zwar an genau denselben Ort, an dem wir 35 Jahre zuvor gewesen waren. Als wir ankamen, blickte sich Andrés um und sagte: «Wo sind bloß all die Insekten hin?» Ich erinnerte mich, dass sich einst Hunderte von Schmetterlingen an Pfützen und Teichen sammelten. Und nun gab es praktisch keine mehr. «Mein Gott, was ist passiert?», fragte ich mich.

Die Saumfingerechse gehörte in den 1970er-Jahren noch zu einer der häufigsten Echsenarten im «El Yunque National Forest» im Osten Puerto Ricos. Der Bestand ist seither radikal eingebrochen. Foto: Luboš Mráz
Bradford Lister vergleicht den Regenwald Puerto Ricos mit einem verzauberten Wald, in dem er sich als Mensch ganz klein fühle – auf eine positive Art. Foto: Anna / Adobe Stock
Als er 2011 auf die Insel zurückkehrte, erwartete Bradford Lister ein einziges Schwirren von Insekten – stattdessen: nichts. Er konnte nachweisen, dass die Biomasse der Sechsbeiner dramatisch zurückgegangen war. Es gab kaum noch Schwebfliegen … Foto: Enrique Ramírez García
… und fast keine Käfer. Hier im Bild: Ein Harlekinkäfer, der die tropischen Wälder in Mittelamerika bewohnt. Foto: Enrique Ramírez García

Wie sah es in anderen Teilen des Regenwalds aus?

Wir sind ins Auto gestiegen und um die Berge herum ans östliche Ende der Insel gefahren, zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück. Dabei fiel uns auf: Auch die Vögel waren verschwunden. Auf den Telefonleitungen: nichts. Über unseren Köpfen: nichts. Wir dachten uns, dass es doch eine Verbindung geben muss!

Irgendetwas musste hier ernsthaft in Unordnung geraten sein.

Prof. Bradford C. Lister, Biologe, Rensselaer Polytechnic Institute, Troy

Was machten Sie dann?

Wir stellten Klebefallen auf dem Waldboden auf. Nach ein paar Tagen fanden wir darin gerade mal ein paar einsame Insekten. Auch in den Malaisefallen verfing sich kaum etwas. Ein Gedanke verfestigte sich in unseren Köpfen: Irgendetwas musste hier ernsthaft in Unordnung geraten sein.

Es ist doch nichts Außergewöhnliches, dass sich die Tierwelt an manchen Tagen nicht zeigt?

Ja, es gibt Tagesschwankungen und auch Schwankungen von Jahreszeit zu Jahreszeit. Aber wir haben fünf Tage nacheinander Proben gesammelt. Und nach unserer Rückkehr 2011 sind wir drei weitere Male in den Regenwald gereist, um erneut Proben zu nehmen – zu zwei Regen- und zwei Trockenzeiten. Als wir die Daten mit denen aus den 1970er-Jahren verglichen, stellten wir fest: Es hatte einen katastrophalen Kollaps der Insektenwelt gegeben. In den Bodenfallen fanden wir 98 Prozent weniger Insekten. Und auch in den Malaisefallen in den Baumkronen fand sich nur noch etwa die Hälfte der Biomasse von einst.

Bei den Insekten allein blieb es aber nicht?

Nein. Unser Gedanke war: Wenn die Insekten verschwinden, dann müssen auch all die Tiere verschwinden, die Insekten fressen. Nehmen wir die Saumfingerechse: Sie isst auch mal Samen und Obst, aber im Grunde ist sie ein Insektenfresser. Und so zeigte sich ein erheblicher Rückgang drei ihrer wichtigsten Arten im Wald. Genauso verhielt es sich mit dem heimischen Coqui-Frosch. Oder auch mit verschiedenen Vogelarten. Das Verschwinden der Insekten hatte schwerwiegende Folgen, die sich auf die gesamte Nahrungskette auswirkten. Mit anderen Worten: Das Nahrungsnetz im Wald kollabierte.

Portrait eines älteren Mannes mit Schnauzbart, der ernst in die Kamera schaut; rechts von ihm eine Wand aus Glasbausteinen.
«Mein Gott, was ist passiert?», fragte sich Bradford Lister, als er im Sommer 2011 nach über drei Jahrzehnten erneut in den «El Yunque National Forest» im Osten Puerto Ricos reiste. Foto: Sally Montana

Wie konnte das passieren?

Eines zumindest konnte nicht die Ursache sein: Lebensraumzerstörung und Pestizide durch intensive Landwirtschaft. Ab den 1960er-Jahren wandelte sich Puerto Rico zu einer Industriegesellschaft und setzte verstärkt auf Tourismus. Ein Großteil der Landwirtschaftsflächen wurde aufgegeben. Und unsere Untersuchungsfläche befindet sich in den Bergen im Osten des Landes, einem Gebiet, das der «United States Forest Service» über viele Jahrzehnte gut geschützt hat. Die gewöhnlichen Treiber des Insektensterbens, wie wir sie aus Europa kennen, spielen also in diesem Fall keine Rolle.

Was war dann die Ursache?

Wir wollten herausfinden, was sich in dieser Zeit verändert hat. Die Temperaturen zum Beispiel: Wir analysierten die Daten aus zwei Wetterstationen auf etwa 350 Metern, und es zeigte sich jeweils ein Anstieg der Durchschnittstemperaturen von etwa zwei Grad Celsius seit den 1970er-Jahren. Mithilfe eines Modells zur Kausalitätsanalyse fanden wir heraus, dass die Temperaturzunahme unter allen möglichen Faktoren den Rückgang von Insekten und Amphibien am besten erklären konnte. Mehr als ein Hinweis war das aber erst einmal nicht.

Können sich Insekten denn nicht an steigende Temperaturen anpassen?

Tropische Insekten reagieren empfindlicher auf ansteigende Temperaturen als ihre Artgenossen in den gemäßigten Breiten, da sie durch die fehlenden Jahreszeiten kaum auf Schwankungen eingestellt sind. Sie können ihre Körpertemperatur nicht selbst regulieren. Wird es über längere Zeit zu heiß, versagt ihr Stoffwechsel.

Ansicht der ersten Seite der Studie

Die Fachwelt reagiert gespalten

Die von Bradford C. Lister und Andrés García vorgestellte Studie zum Insektensterben auf Puerto Rico sorgte für eine heftige Debatte in der Fachwelt. Viele Wissenschaftler zeigten sich «schockiert» von den Ergebnissen. Andere wie Michael R. Willig von der «University of Connecticut» kritisierten ihre Schlussfolgerungen: «Der enge Fokus auf temperaturbedingte Aspekte des Klimawandels als Ursache spricht nicht die vielfältigen Störungen (z. B. Hurrikane und Dürren) an, die den Wald betreffen», schrieb Willig zusammen mit Kollegen in einem Brief, der im Mai 2019 im Fachblatt «PNAS» veröffentlicht wurde.

Manche Kollegen bezweifeln, dass die direkte Erwärmung zum Insektenkollaps geführt hat. Auch indirekte Faktoren wie Hurrikane könnten eine Rolle gespielt haben. Haben die Kollegen mit ihrer Kritik Recht?

Es steht außer Frage, dass sich das Klima auf diesen Höhenlagen im «El Yunque National Forest» erwärmt hat, denn so zeigen es die beiden mehrere Kilometer voneinander entfernten Wetterstationen.

Und was ist mit Hurrikanen oder Dürren?

Natürlich können Hurrikane periodische Störungen verursachen. Aber insgesamt lässt sich durch sie der Rückgang der Insekten auf Puerto Rico nicht erklären, zumindest nicht als Hauptfaktor. Sie können die negativen Auswirkungen durch den Temperaturanstieg höchstens verstärken.

Aber Klimawandel bedeutet doch mehr als nur einen Temperaturanstieg. Sollte man bei der Suche nach der Ursache nicht den Fokus erweitern?

Das sollte man, ja. Der Klimawandel verändert auch die Luftfeuchtigkeit, und das beeinflusst zum Beispiel Frösche, aber auch viele Insekten. Leider hat keine der Klimastationen in der Gegend die Luftfeuchtigkeit gemessen, nur Regenfälle. Diese blieben seit den 1970er-Jahren ziemlich konstant.

Der Verlust der tropischen Insekten käme einer Katastrophe gleich.

Prof. Bradford C. Lister, Biologe, Rensselaer Polytechnic Institute, Troy

Kann Puerto Rico mit seiner überdurchschnittlich hohen Erwärmung trotzdem als Modell herhalten für das, was in den tropischen Regenwäldern andernorts passieren wird?

Das wissen wir noch nicht. Denn es gibt fast keine Daten für den tropischen Regenwald rund um die Welt. Dabei beherbergen die Tropen 70 Prozent aller Insektenarten auf diesem Planeten. Ihr Verlust käme einer Katastrophe gleich. Mein Credo ist deshalb: Wir brauchen mehr Daten! Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir die Faktoren verstehen, die zum Rückgang der Vielfalt der tropischen Insekten führen. Denn die sind die Basis der Nahrungskette. Wenn wir die Insekten nicht schützen, können wir die höheren Ebenen des Nahrungsnetzes, die Echsen und Vögel, nicht schützen.

Auf einem grünen Blatt sitzt ein Frosch und schaut keck in die Kamera.
Sein Paarungsruf «Ko-kiiii» gab dem inoffiziellen Wappentier Puerto Ricos seinen Namen: Coquí-Frosch. Das versteckt lebende, winzige Amphibium gilt im «El Yunque National Forest» als stark gefährdet. Foto: Danita Delimont / Alamy Stock
Auf einem Ast sitzt ein grüner Vogel mit weißem Bauch und roter Schnabelpartie.
Der Bestand des insektenfressenden Gelbflankentodis verringerte sich innerhalb von 15 Jahren dramatisch. Dass ein Zusammenhang mit dem Schwund von Insekten und anderen Gliedertieren bestehen müsse, schloss Lister aus Vergleichsdaten. Foto: Dick Daniels
Eine rotbraune dicke Taube sitzt auf der Erde.
So blieb nämlich der Bestand der Roten Erdtaube in diesem Zeitraum stabil: Sie ernährt sich auschließlich von Samen und Körnern. Foto: Kim Hansen
Eine rotbraune weiss gefleckte Eidechse sitzt auf einem Stein.
In den 1970er-Jahren war der Weißlippenanolis noch die häufigste Echsenart auf Puerto Rico. Seither hat sich der Bestand mehr als halbiert. Foto: dennisvdw / istock

Apropos mehr Daten: Sie erforschen auch die Insekten- und Echsenwelt in einem Tropenwald an der Westküste Mexikos. Was haben Sie dort herausgefunden?

Wir haben in Mexiko zwischen 1986 und 2014 einen Rückgang der Biomasse an Insekten um 75 Prozent festgestellt. Und zugleich eine Erwärmung um 2,4 Grad Celsius. Allerdings herrscht vor Ort ein sehr unbeständiges Klima, und wir haben 2014 nur in der Trockenzeit Proben genommen. Das war also nur eine Stichprobe. Deshalb wollen wir jetzt weitere Daten sammeln.

Wie ist das eigentlich für Sie, seit ein paar Jahren ständig Orte aufzusuchen, wo einstige Paradiese am Verschwinden sind? Wie gehen Sie damit um?

Für jemanden, der die Tiere und Pflanzen so liebt und sein ganzes Berufsleben dafür investiert, ist das niederschmetternd und herzzerreißend. Vergleichbar damit, einen seiner besten Freunde sterben zu sehen und dabei das Gefühl zu haben, nichts dagegen tun zu können. Aber gleichzeitig motiviert mich das alles auch, meine ganze Zeit, die ich habe, ins Studium von Insekten und Echsen in den Tropen zu investieren und dafür Gelder zu sammeln. Zusammen mit Andrés García plane ich eine ganze Reihe an weiteren Untersuchungen in Mexiko, unter anderem in zwei tropischen Forschungsstationen. Nichtsdestotrotz ist das, was ich sehe, beängstigend und beunruhigend. Wenn wir es nicht schaffen, die kollektive Willensstärke aufzubringen, dem Ausstoß von Treibhausgasen in die Atmosphäre ein Ende zu bereiten, dann ist alles verloren.

 

Bradford C. Lister

1947 in Marblehead, Massachusetts geboren, arbeitet als Biologe am «Rensselaer Polytechnic Institute» in Troy, im Bundesstaat New York. Zusammen mit seinem Kollegen Andrés García von der «Universidad Nacional Autónoma de México» in Mexiko-Stadt forscht Lister seit einigen Jahren vor allem in Puerto Rico und Mexiko. Im Juni 2019 wurden die beiden von der «Fondation Prince Albert II de Monaco» für ihre Bemühungen um den Schutz der Biodiversität ausgezeichnet.

05. März 2020 | Energiewende-Magazin