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Keine Kohle für Gas und Öl

Ein Bericht von Maike Brzoska

Die Organisation «urgewald» kämpft dafür, dass die Finanzindustrie ihr Geld aus Fossilprojekten weltweit abzieht. Ihre stärkste Waffe dabei: Informationen.

Die Bäreninsel ist ein einzigartiges Ökosystem in der norwegischen Barentssee. Sie liegt auf halbem Weg von Spitzbergen zum Nordkap. Die Südspitze der Insel besteht aus kargen Felsen und steilen Klippen – eine ideale Brutstätte für Vögel. Zum Beispiel für Trottellummen, die ein wenig aussehen wie Pinguine, aber zu den Alkenvögeln gehören. Die Herkunft ihres Namens ist nicht ganz klar, aber manche meinen, dass er ganz gut zu ihrem tollpatschig wirkenden Watschelgang passt. Dafür sind Trottellummen hervorragende Taucher. Wie Pinguine nutzen sie ihre Flügel zum Schwimmen und Navigieren unter Wasser. Für die Brut und Aufzucht ihres Nachwuchses kommen sie auf die Bäreninsel. Genauso wie unzählige Eissturmvögel, Dreizehenmöwen und Krabbentaucher. Die Vogelkolonien, die hier brüten, gehören zu den größten weltweit. Refugien wie die Bäreninsel gibt es nicht mehr viele auf der Welt. Seit 2002 steht die Insel unter Naturschutz.

Dennoch ist das Ökosystem bedroht, wie die NGO «urgewald» zeigt. «Öl- und Gasfirmen rücken immer näher an die Bäreninsel heran», sagt Signe Moe, Mitarbeiterin bei urgewald. Denn 185 Kilometer südöstlich der Insel bereiten Unternehmen wie «Equinor» und «Lundin Energy» mit «Wisting» ein neues Ölprojekt vor. Ab 2028 sollen dort Öl und Gas gefördert werden. 185 Kilometer – das klingt erst mal weit entfernt, aber Wind und Wellen verteilen Chemikalien großflächig. Die giftigen Stoffe reichern sich in den Fischen an – die Hauptnahrung der Vögel. Neben der Verschmutzung befeuert Wisting auch den Klimawandel. Denn bei der Förderung entweicht auf den Ölfeldern auch überschüssiges Erdgas, das die Unternehmen einfach abfackeln. Der dadurch entstehende Ruß färbt das umliegende Eis schwarz, wodurch es schneller schmilzt. Ohnehin erwärmt sich die Arktis laut dem Weltklimarat IPCC doppelt so schnell wie der Rest der Erde.

Schroffe Felsen erheben sich aus dem Meer. Auf den Felsen sitzen Vögel.
Die Bäreninsel in der norwegischen Barentssee ist ein einzigartiges Paradies für Seevögel. Foto: Galaxiid / Alamy Stock
Endlose schroffe Felsen, auf denen Unmengen von pinguinartigen Vögeln sitzen und umherfliegen.
Auf den steilen Klippen brüten jedes Jahr zigtausend Trottellummen und andere Vögel einträchtig nebeneinander. Foto: robertharding / Alamy Stock

Die Verantwortlichen ausfindig machen

Normalerweise würde man von dem Eiland aus der norwegischen Barentssee nicht viel mitbekommen. Dass die Informationen über die drohenden Umweltrisiken verfügbar sind, liegt an urgewald. Die NGO aus dem Münsterland hat sie gemeinsam mit internationalen Partner-NGOs für ihre Datenbank «Gogel» zusammengetragen. Die Gogel steht für «Global Oil & Gas Exit List», eine Liste, die urgewald Anfang November 2021 veröffentlichte und auf der Weltklimakonferenz in Glasgow präsentierte. Diese führt knapp 900 Unternehmen auf, die im Geschäft mit Öl und Gas tätig sind – nach Recherchen von urgewald sind das etwa 95 Prozent der weltweiten Gas- und Ölproduktion.

Die Informationen von Gogel sind öffentlich zugänglich, richten sich aber in erster Linie an die Finanzindustrie, insbesondere an Finanz- und Versicherungsinstitute. Denn die sind die Geldgeber für solche Expansionsprojekte. Schließlich werden große Unternehmen heute zum größten Teil fremdfinanziert: Sie besorgen sich das Kapital für derartige Projekte als Kredite bei Banken. Versicherungen dagegen sichern solche Vorhaben ab.

Wenn Unternehmen am Aktienmarkt notiert sind, gehören sie ohnehin den Aktionären. Vor allem Pensionsfonds und andere Verwalter halten oft große Anteile an Aktiengesellschaften – und haben entsprechenden Einfluss. Hier setzt urgewald an und fordert, dass die Finanzindustrie ihrer Verantwortung gerecht wird. Denn wenn kein Geld mehr fließt, kommen solche klima- und umweltschädlichen Projekte auch nicht mehr zustande.

Öl- und Gasprojekte befeuern die Klimakrise

Denn obwohl das 1,5-Grad-Ziel seit 2015 beschlossene Sache ist – und damit auch die Menge CO2, die wir noch emittieren können –, werden weiterhin neue Gas- und Ölprojekte geplant, finanziert und umgesetzt. Laut dem aktuellen Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen führt das in den kommenden zwei Jahrzehnten zu einer Produktion, die uns weit über das 1,5-Grad-Ziel hinausschießen lässt. Wenn alle geplanten Projekte umgesetzt werden, läge 2030 die Ölproduktion 57 Prozent und die Gasproduktion 71 Prozent über dem Emissionsniveau, das mit dem 1,5-Grad-Ziel vereinbar ist. Bei Kohle wären es gar 240 Prozent. 

Es gibt bislang so gut wie keine Richtlinien zum Ausschluss von Öl und Gas durch Finanzinstitute.

Katrin Ganswindt, Campaignerin bei «urgewald», Sassenberg

Anders als bei Gas und Öl gibt es aber von Versicherungen und Banken immer mehr Zusagen, die Investments in den Kohlesektor zu reduzieren. Genau das fordert urgewald nun auch für die Öl- und Gasbranche. «In den letzten zwei Jahren haben wir zwar eine Welle von Richtlinien zum Ausschluss von Kohle durch Finanzinstitute gesehen, aber fast keine, die sich mit Öl und Gas befassen», sagt Katrin Ganswindt, Senior Finanz-Campaignerin bei urgewald.

Luftaufnahme einer kargen Landschaft, durchzogen von zahlreichen Zufahrtsstraßen zu Bohrstellen.
Beim Fracking werden nicht nur teils giftige Chemikalien in den Boden gepresst, um Erdöl und Erdgas zu fördern, sondern auch riesige Landstriche verwüstet – wie bei diesem Gasfeld in Wyoming, USA. Foto: John / EcoFlight

Genau dafür ist die Gogel gedacht. Die Datenbank zeigt, welche Firmen auf welche Weise in der Gas- und Ölbranche aktiv sind – und auch, welche von ihnen besonders aggressive Expansionspläne schmieden. Insgesamt sind laut urgewald in den letzten drei Jahren 168 Milliarden US-Dollar für die Exploration, also die Suche nach neuen Öl- und Gasvorkommen, ausgegeben worden. Mehr als die Hälfte des Betrags ist auf nur 16 Unternehmen zurückzuführen. Dazu gehören «PetroChina», «Shell» und «Pemex» aus Mexiko.

Hinzu kommt, dass die Gas- und Ölförderung immer dreckiger wird, auch das zeigt die Gogel. Denn die Hälfte der neuen Projekte würde sogenannte unkonventionelle Gas- und Ölvorkommen ausbeuten. Zum Beispiel mithilfe von Fracking, für das große Mengen Chemikalien eingesetzt werden, oder durch Tiefwasserbohrungen in mehr als anderthalb Kilometer unter dem Meeresspiegel.

Jahresberichte offenbaren unbequeme Wahrheiten

Darüber hinaus zeigt die Gogel auf, welche Unternehmen an Projekten beteiligt sind, die vor Ort besonders gravierende ökologische Schäden verursachen oder soziale Spannungen verschärfen. Zum Beispiel bei dem indigenen Volk der Nenzen im Westen Sibiriens. Es lebt seit Tausenden von Jahren auf der Yamal-Halbinsel im Einklang mit der Natur, aber seine Lebensweise ist zunehmend bedroht. Denn im Boden lagern die größten Gasreserven der Erde und verschiedene Gasfirmen wollen sie ausbeuten. Derzeit sind solch detaillierte Analysen für 20 Projekte verfügbar.

Diese Projektanalysen sollen in der Datenbank weiter aktualisiert und um zusätzliche Analysen ergänzt werden. Das ist eine akribische Arbeit, die bei urgewald zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten. Dies wird – wie die gesamte NGO – zu 35 Prozent über Spenden und zu 65 Prozent über Stiftungsgelder finanziert. Das «Research-Team» von urgewald durchforstet internationale Datenbanken ebenso wie Jahresberichte von Unternehmen und Präsentationen für Investoren.

 

Ein sommerliches Gruppenfoto auf dem Land zeigt eine Gruppe von mehr als fünfundzwanzig, in der Hauptsache jungen, Menschen.
Das Team von «urgewald» sorgt mit seinen akribischen Recherchen dafür, fossilen Großprojekten den Geldfluss abzugraben. Foto: Andreas Schoelzel

 

Die Gogel ist die erste derartige Datenbank zur weit verzweigten Öl- und Gasindustrie. Die Transparenz, die urgewald auf diese Weise herstellt, erleichtert es der Finanzindustrie, die entsprechenden Firmen ausfindig zu machen. Allerdings ziehen sich Investoren in der Regel nur schrittweise aus einer Branche zurück – immerhin geht es um Milliardenbeträge. Der deutsche Versicherungskonzern Allianz geht einen solchen Schritt und hat angekündigt, ab 2023 keine Firmen mehr zu versichern, die über 20 Prozent ihres Umsatzes mit Ölsanden machen. Auch für solche detaillierten Richtlinien benötigen Finanzinstitute entsprechende Informationen, die das Team hinter der Gogel liefern kann.

Die Geschichten hinter den Zahlen

Dennoch braucht man neben Zahlen und Fakten auch eindrucksvolle Bilder, um dem Anliegen Nachdruck zu verleihen – das weiß man bei urgewald sehr genau. Denn auf diese Weise hat die NGO, bevor sie begann, Jahresberichte zu durchforsten, ihren ersten großen Erfolg erzielt: 2015 zeigte Heffa Schücking, Gründerin und politische Geschäftsführerin, den Abgeordneten des norwegischen Parlaments bei einer öffentlichen Anhörung Bilder einer verwüsteten Landschaft in den Appalachen. Die Bergkuppen waren für den Kohleabbau gesprengt und abgetragen worden. Der norwegische Staatsfonds war finanziell daran beteiligt. Die Politiker beschlossen damals eine neue Richtlinie für ihren Pensionsfonds. Mit mehr als einer Billion Euro ist der Staatsfonds der größte Vermögensverwalter der Welt – und zieht seitdem sein Geld aus dem Kohlesektor ab.

Damals ist Schücking aber auch klar geworden, dass es dabei ein ganz praktisches Problem gab: Es fehlten schlicht die Daten. Deshalb recherchierten sie bei urgewald zwei Jahre lang, um eine Datenbank zu erstellen, die alle Unternehmen mit Verbindungen zum Kohlesektor auflistet: die «Global Coal Exit List» (GCEL). Sie ist gewissermaßen die «große Schwester» der Gogel. Die GCEL ist mittlerweile in der Finanzindustrie als Informationsquelle etabliert. Mit der kleinen Schwester will urgewald nun Ähnliches erreichen: durch Fakten und anhand von Beispielen aufzeigen, welche Projekte zukunftsgefährdend sind – um diese womöglich zu stoppen, bevor sie überhaupt starten können.

Nicht nur den Trottellummen auf der Bäreninsel wäre das zu wünschen, sondern auch den Menschen im Okavango-Delta. Das letzte intakte Feuchtgebiet in Afrika gehört zum UNESCO-Weltnaturerbe und liegt im Grenzgebiet zwischen Namibia und Botswana. In unmittelbarer Nähe zum Okavango-Delta entwickelt das kanadische Unternehmen «ReconAfrica» seit Anfang 2021 ein Ölprojekt riesigen Ausmaßes. Neben Hunderten von Öl- und Gasförderbrunnen, Bohrtürmen und Pipelines soll auch ein Netz von Zufahrtsstraßen entstehen.

Durch eine weitläufige flache Landschaft schlängelt sich ein Fluss.
Das Okavango-Delta ist ein riesiges Feuchtgebiet im Herzen Afrikas. Foto: Gary Cook / Alamy Stock
Jungen stehen in einem Fluss und versuchen mit geflochtenen Körben Fische zu fangen.
Der enorme Fischreichtum der Gewässer bietet vielen Familien eine Lebensgrundlage. Foto: Martin Harvey / Alamy Stock
Kinder und Frauen mit schwarzer Hautfarbe in einem afrikanischen Dorf mit Lehmhäusern
Die San gehören zu den indigenen Völkern Namibias und leben oft noch sehr traditionell. Foto: Franco Lucato / Alamy Stock
Eine traditionell gekleidete samische Familie stellt sich während eines Volkstreffens dem Fotografen.
Das indigene Volk der Nenzen ist seit Tausenden von Jahren in der eisigen Kälte Westsibiriens zu Hause. Foto: Vladimir Kovalchuk / Alamy Stock
Potrait eines etwa fünfjährigen Jungen, den Kopf eingepackt in einer Fellkappe, in einer Schneelandschaft.
Blick in eine ungewisse Zukunft: Mehrere Firmen wollen die Gasreserven im Boden ausbeuten. Das würde die Heimat der indigenen Gemeinschaft zerstören. Foto: Sue Flood / Alamy Stock

Die indigene Gemeinschaft der San, die seit 40.000 Jahren in der Okavango-Region lebt, protestiert gegen diese Invasion in ihre Heimat. Laut urgewald haben sich dem Widerstand inzwischen auch «Fridays for Future Windhoek» und «Frack Free Namibia & Botswana» angeschlossen. ReconAfrica hingegen beharrt auf der Ausbeutung der Vorkommen. Das Unternehmen geht davon aus, den Ölfund des Jahrzehnts gemacht zu haben. Entsprechend groß ist seine Investition. Das würde nicht nur die Heimat der Indigenen zerstören, sondern auch für riesige Mengen an zusätzlichem CO2 sorgen, denn schließlich wird eine solche Infrastruktur üblicherweise über Jahrzehnte hinweg genutzt, um Gewinne zu generieren.

 

Es ist essenziell, dass solche klimagefährdenden Großprojekte gar nicht erst entstehen.

Katrin Ganswindt, Campaignerin bei «urgewald», Sassenberg

«Neue Infrastrukturprojekte für die Öl- und Gasindustrie stellen eine große Gefahr für die Ziele von Paris dar, da sie uns für die nächsten Jahrzehnte auf einen hohen Emissionspfad festlegen», erklärt Katrin Ganswindt. Die Datenbank Gogel listet aktuell 274 sogenannte «Midstream-Unternehmen» auf, die neue Öl- und Gaspipelines oder Flüssiggas-Terminals bauen. «Die sind ein todsicheres Rezept für den Klimakollaps – und Finanzinstitute müssen auch hier beim Ausschluss ansetzen», ergänzt sie.

 

in einem blauen Pinselstrich: der Tannenbaum

EWS-Weihnachtsaktion 2021 für «urgewald»

Die Elektrizitätswerke Schönau unterstützten mit ihrer Weihnachtsaktion die Arbeit von «urgewald»: Der gemeinnützige Verein urgewald mit Sitz in Sassenberg im Münsterland wurde 1992 gegründet. Die NGO deckt auf, wo Banken und Investoren mit ihrem Geld Projekte ermöglichen, welche die Umwelt zerstören oder Menschenrechte gefährden. Weitere Informationen über urgewald finden Sie auf deren Website.

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17. November 2021 | Energiewende-Magazin