Große Klappe, viel dahinter
Ein Bericht von Gunther Willinger
Riffbauer, Filtrierer, Klimaschützer: Muscheln formen Lebensräume, sind aber selbst durch die Klimakrise und Eingriffe in die Natur gefährdet.
Seit Menschengedenken sind Muscheln ein wichtiger Bestandteil auf dem Speiseplan der Küstenbewohner:innen. Da verwundert es wenig, dass sie häufig erst einmal aus kulinarischer Perspektive wahrgenommen werden. Wir denken an Venusmuscheln in den Spaghetti alle Vongole, an Miesmuscheln in großen Paella-Pfannen und an Austern schlürfende Tourist:innen auf Sylt. Vielleicht haben wir auch noch die ein oder andere bunte Schale vom Strandspaziergang im Urlaub aufbewahrt. Mit zunehmender Entfernung vom Meer lässt bei den meisten das Interesse für Muscheln allerdings schnell wieder nach.
Während nah verwandte Tiergruppen wie Kraken mit Intelligenz und großen Augen glänzen, wirken Muscheln auf den ersten Blick nicht sonderlich aktiv oder gar charismatisch. Und doch könnte ihre Bedeutung für sauberes Wasser und intakte Ökosysteme größer kaum sein: Als hocheffiziente Filtrierer und Riffbauer formen sie ihre Umwelt und schaffen Lebensraum für zahllose Arten. Durch Überfischung, Verschmutzung und Gewässerzerstörung brachen die Muschelbestände in den letzten 150 Jahren in vielen Küstengewässern, Flüssen, Bächen und Seen allerdings massiv ein; erst in jüngster Zeit gibt die Wiederansiedlung einzelner Arten etwas Grund zur Hoffnung.
Umweltschützer mit zwei Schalen
Muscheln gehören wie die Schnecken, Tintenfische und Kraken zu den Mollusken, den Weichtieren. Ihren weichen Körper schützen sie durch eine harte, zweiteilige Kalkschale, der sie ihren wissenschaftlichen Namen «Bivalvia» (Zweischaler) verdanken. Die beiden passgenau schließenden Hälften der Muschelschale sind mit einem Scharnier verbunden und werden von kräftigen Schließmuskeln gesteuert. Erst einmal ausgewachsen, bleiben die meisten Muschelarten mehr oder weniger an Ort und Stelle. Wenn nötig, können sie ihren muskulösen Fuß aus der Schale schieben und über kurze Entfernungen kriechen. Manche Arten wie die Kammmuschel sind dazu in der Lage, bei Gefahr schwimmend Reißaus zu nehmen, indem sie ihre Schale ruckartig öffnen und schließen. Doch richtig mobil sind die Tiere nur im Larvenstadium. Dann lassen sie sich mit der Strömung treiben, bis sie einen geeigneten Platz für sich finden. Die Larven mancher Süßwassermuscheln nutzen gar Fische als «Babytaxi». Doch dazu später mehr.
Muscheln pumpen unermüdlich Wasser durch ihre Kiemen und gelangen so nicht nur an Sauerstoff, sondern auch an ihre Nahrung, die aus Bakterien, Mikroalgen und anderem Plankton besteht. Auf den Kiemen festgehaltene Partikel werden sortiert, in Schleim eingehüllt, mit feinen Wimpern zur Mundöffnung transportiert oder wieder ausgeschieden. So wird jede einzelne Muschel zu einer Mini-Kläranlage, die Tag für Tag viele Liter Wasser filtert – Austern schaffen bis zu zehn Liter pro Stunde.
Überlebenskünstler und blinde Passagiere
Im Schutz ihrer beiden Schalen behaupten sich Muscheln schon seit über 500 Millionen Jahren. Sie sind in fast jeden Winkel unter Wasser vorgedrungen, von der Tiefsee bis in die kleinsten Bergbäche. Die meisten der rund 10.000 heute lebenden Muschelarten siedeln im lichtdurchfluteten Flachwasserbereich der Meere. Denn dort wachsen viele der einzelligen Algen heran, von denen sich Muscheln hauptsächlich ernähren. Und sie haben dabei erstaunliche Anpassungen entwickelt.
Etliche Arten graben sich im Sandboden ein, nur noch die Öffnung ihres Atemrüssels verrät ihren Standort. Dazu gehören die Sandklaffmuscheln der Nordsee, aber auch die Venus- und Herzmuscheln. Es gibt Baumeister wie die Austern, die ausgedehnte Riffe bilden, und Felsenbewohner wie die Miesmuscheln, die mit ihren Haftfäden selbst auf dem nackten Stein der Brandung trotzen können. Die bis über einen Meter großen Tridacna-Riesenmuscheln leben – ganz ähnlich wie Korallen – in Symbiose mit Mikroalgen (Zooxanthellen), während Schiffsbohrmuscheln sich mit ihren scharfkantigen kleinen Schalen und einem wurmförmigen Körper wie ein Bohrkopf tief ins Holz fräsen können. Die Natur mit ihrem Erfindungsreichtum hat sich bei den Muscheln so richtig ausgetobt.
Der Verlust der biologischen Fülle
Ausgetobt haben sich auch die Menschen, und zwar bei der Befischung der Meere – was besonders begehrte Muschelarten wie Austern seit Jahrhunderten zu spüren bekommen. Weil Austern gern auf Austern wachsen, bilden sie im Laufe der Zeit große Riffe aus, die sich einst über Tausende Kilometer längs der Küsten der gemäßigten Breiten erstreckten. In Europa reichten sie von der Atlantikküste Norwegens bis vor die Küsten Marokkos und von denen des Mittelmeeres bis zum Schwarzen Meer. Viele Milliarden Muscheln, die das Wasser reinigten und gleichzeitig Lebens- und Schutzräume für bunte und artenreiche Biotope im Riff boten. Seeanemonen, Schwämme, Krebstiere, Korallen, Seesterne und über 200 Fischarten leben in Austernriffen. Noch im 19. Jahrhundert war die Europäische Auster weit verbreitet, ein besonders großes Austernriff lag vor Borkum in der Deutschen Bucht. Mit 320 Kilometern Länge und einer Fläche von über 1,5 Millionen Hektar war es so groß wie ganz Schleswig-Holstein. Die Filterleistung der Austern reichte aus, um jeden Monat einmal das gesamte Wasser in der Deutschen Bucht durch ihre Muschelkiemen zu schleusen – das Wasser in der Nordsee dürfte damals wohl deutlich klarer gewesen sein.
Doch mit dem technischen Fortschritt in der Fischerei war das Schicksal der heimischen Auster im Laufe des 19. Jahrhunderts besiegelt. Eine der fatalen Neuerungen stellten die Grundschleppnetze für den Muschelfang dar, auch Dredgen genannt. Wie eine Baggerschaufel reißen diese unten stahlbezahnten Fangrahmen den Meeresboden auf, die Muschelernte sammelt sich in Körben oder Netzen dahinter. Die Schäden für die Fauna sind maximal. Damit wurden die Austernbänke in der Nordsee so lange bearbeitet, bis von der einstigen Fülle nichts mehr übrig war. Seit rund hundert Jahren gilt die Europäische Auster in der Deutschen Bucht als ausgestorben.
Die Rückkehr der Europäischen Auster
Heute arbeitet man im Austernaufzuchtzentrum des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) auf der Nordseeinsel Helgoland am Comeback der heimischen Auster. In großen Bottichen werden die Austernlarven mit Mikroalgen gefüttert und wachsen innerhalb weniger Wochen zu silbrig glänzenden Babyaustern heran. «Wenn sie einige Millimeter lang sind, haben sie die richtige Größe», erläutert Tanja Hausen, Meeresbiologin beim AWI und wissenschaftliche Koordinatorin in dem vom Bundesamt für Naturschutz geförderten Projekt «Restore». Dann können die Jungmuscheln, sogenannte Saataustern, ausgewildert werden und zum Aufbau eines neuen Riffs beitragen. Die Europäische Auster soll zunächst im Meeresschutzgebiet Borkum Riffgrund wieder Fuß fassen. Dort hat man im Sommer 2020 ein erstes «Pilot-Riff» angelegt. Zunächst wurden 80 Tonnen Kalkstein als Fundament für das neue Riff versenkt. Darauf brachten die Wissenschaftler:innen körbeweise mit Saataustern versetzte Austernschalen aus. Im Sommer 2025 werden die ersten Ergebnisse der Erfolgskontrolle vorliegen, schon bald sollen weitere Ansiedlungsflächen hinzukommen, sagt Hausen. All dies ist nur möglich, weil die Fischerei mit Grundschleppnetzen im Schutzgebiet seit 2023 verboten ist. Ob das Riff vor Borkum jemals auch nur annähernd zu alter Größe anwachsen wird, ist ungewiss – aber ein Anfang ist gemacht.
Eine Proteinquelle für Milliarden
Laut einer Studie der University of Birmingham in England stehen weltweit über 800 marine Muschelarten auf dem menschlichen Speiseplan. Der Großteil der vermarkteten Muscheln stammt jedoch inzwischen aus Aquakulturen. So kommen die meisten Austern, die in Europa verzehrt werden, aus Zuchtanlagen vor der Atlantikküste Frankreichs , wo die robustere und schneller wachsende Pazifische Felsenauster gezüchtet wird. Laut Welternährungsorganisation FAO liefert die Muschelzucht weltweit für etwa 1,5 Milliarden Menschen mindestens 15 Prozent der tierischen Proteinzufuhr. Muscheln sind eine Quelle für hochwertiges tierisches Eiweiß sowie reich an mehrfach ungesättigten Fett- und Aminosäuren. Die Aquakultur mit Muscheln ist dabei eine vergleichsweise umweltfreundliche Industrie, weil Muscheln sich von Algen und organischen Partikeln im Wasser ernähren, also keine externe Nahrungszufuhr wie Fischmehl benötigen. Es kann sich sogar eine Win-Win-Situation ergeben: Weil viele Küstengewässer überdüngt sind, können die Muscheln zur Reinigung des Wassers beitragen. Sind sie für den menschlichen Verzehr bestimmt, geht das natürlich nur, wenn sich keine Schadstoffe im Wasser befinden, die sich in den Muscheln anreichern können. Deswegen unterliegen diese Muscheln in der EU einer strengen veterinärmedizinischen Kontrolle.
Ein vielversprechender Ansatz ist die Ansiedlung von Muscheln im Bereich von Offshore-Windparks. Da werden beispielsweise Austern an der Steinschüttung angesiedelt, die zur Sicherung der Fundamente der Windkraftanlagen dient. Oder es entstehen Aquakulturanlagen für Miesmuscheln und Zuckertang, einer Braunalgenart – wie in einem Pilotprojekt im Windpark Kriegers Flak zwischen Rügen und der dänischen Insel Møn.
Wir könnten Unmengen an Muscheln produzieren – und dabei noch die Überdüngung der Meere verringern.
Das Forschungsteam um die Meeresbiologin Marie Maar von der Universität Aarhus und dem Aquakulturspezialisten Bela H. Buck vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven rechnet vor, dass man in solchen Meeresfarmen bis zu 18 Tonnen Miesmuscheln pro Hektar und Jahr produzieren könnte. Bei derzeit bereits über 1.600 Windkraftanlagen in Nord- und Ostsee wären das Hunderttausende Tonnen Muscheln, die nicht nur als Nahrung und Futter dienen, sondern auch der Überdüngung der Nord- und Ostsee entgegenwirken könnten.
Die Muschelzucht ist jedoch akut durch die Klimakrise bedroht. Seit dem sprunghaften Anstieg der globalen Meerestemperaturen im Frühjahr 2023 sterben viele Muscheln oder sind zumindest stark im Wachstum eingeschränkt – denn die höheren Wassertemperaturen belasten ihren Stoffwechsel und begünstigen die Ausbreitung schädlicher Bakterien und Pilze. Seither beklagen zahlreiche Muschelfarmen an den Küsten Europas massive Ernteverluste von bis zu hundert Prozent.
Eine weitere Gefahr droht durch Mikroplastik. Feine Plastikteilchen von unter fünf Millimetern Durchmesser sind weltweit allgegenwärtig und wandern durch die Nahrungsketten. Zwar steht die Forschung hier erst am Anfang, doch verschiedene Studien belegen negative Auswirkungen von Mikroplastik auf Muscheln, etwa auf die Entwicklung von Austernlarven oder den Stoffwechsel von Miesmuscheln – und auch auf Mikroalgen, ihre Hauptnahrungsquelle.
Ökosystem-Gestalter und Küstenschützer
Muscheln formen, stabilisieren und reinigen ganze Ökosysteme. Austernriffe etwa tragen als Bollwerk gegen das Meer zum Küstenschutz bei. An den südöstlichen Küsten Nordamerikas lebt die Gerippte Miesmuschel «Geukensia demissa». Mit ihren Byssusfäden heftet sich diese Art im Gezeitenbereich zwischen vorgelagerten Austernriffen und Salzmarschen an Schlickgräser. Gräser und Muscheln halten Sand und Schlick zurück und stabilisieren so den Boden. Ein Forscherteam um Sinéad Crotty von der University of Florida verpflanzte auf Sapelo Island in Georgia in mühsamer Handarbeit 200.000 Muscheln, um deren Effekt auf die Marschbildung zu untersuchen.
Das Ergebnis: Salzwiesen können sich mithilfe der Muscheln viel schneller etablieren als auf Flächen ohne sie – und auch deutlich schneller als erwartet. In den weiten Küstensümpfen spielen die Muscheln demnach eine entscheidende Rolle, um das Land gegen den Meeresspiegelanstieg zu wappnen. Und Muscheln tun auch Seegraswiesen in den flachen Meeresbereichen gut, etwa indem das Wasser durch deren Filterleistung klarer wird. So erleichtern die Muscheln den Meerespflanzen die Photosynthese.
Salz- und Seegraswiesen gehören ähnlich wie Mangrovenwälder zu den stark bedrohten Küstenlebensräumen mit hoher Bedeutung für den Klima- und Küstenschutz. Muscheln schützen das Klima also gleich doppelt: einmal durch ihre Rolle als Ökosystem-Ingenieure und zum anderen, weil sie in ihren Körpern und Schalen beträchtliche Mengen Kohlenstoff speichern.
Von Wassernymphen und Glamour-Muscheln
Szenenwechsel von der Küste in die Flüsse, Bäche und Seen: Rund 1.500 Muschelarten leben im Süßwasser – darunter Großmuscheln, deren Schalen bis zu zwanzig Zentimeter lang werden, und Kleinmuscheln wie die oft nur wenige Millimeter großen Erbsen-, Kugel- oder Häubchenmuscheln. Die großen Süßwassermuscheln werden auch Najaden genannt, nach den Wassernymphen, die in der griechischen Mythologie als Wächterinnen der Quellen galten. Weltweit gibt es rund 1.000 Großmuschelarten, doch mehr als die Hälfte davon steht auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion. Damit gehören sie zu den am stärksten gefährdeten Tiergruppen. Auch die sieben in Deutschland anzutreffenden Arten stellen da keine Ausnahme dar.
Eine davon ist die Flussperlmuschel «Margaritifera margaritifera», die einzige heimische Süßwassermuschel, die regelmäßig Perlen ausbildet, was ihr gegenüber den anderen Arten einen gewissen «Glamour-Faktor» verschafft, so Marco Denic, Gewässerbiologe im Landkreis Passau. Er arbeitet im Projekt «Margaritifera Restoration Alliance» (MARA) zur Wiederansiedlung der Flussperlmuschel in Deutschland. Flussperlen wachsen zwar deutlich langsamer und meist auch ungleichmäßiger als die Perlen mariner Perlmuscheln, dennoch waren sie schon immer heiß begehrte Schätze, denn allenfalls jede Tausendste Muschel enthält eine Perle. Und bis eine große Perle herangewachsen ist, dauert es viele Jahrzehnte. Seit dem 15. Jahrhundert erhoben Herzöge, Fürsten und Könige Anspruch auf die Perlen, die Perlfischerei wurde zum Hoheitsrecht. Besonders viele und große Perlen zieren die 1806 angefertigte Krone der bayerischen Königin. Auf dem menschlichen Speiseplan landeten die Flussmuscheln indes selten, doch waren sie früher so zahlreich, dass sie an die Schweine verfüttert wurden.
Muscheln reagieren sehr empfindlich auf Umweltveränderungen und gelten deswegen auch als Indikatoren für intakte Gewässer. Flussperlmuscheln etwa leben in der Forellenregion der Bäche, wo das schnell fließende Wasser kühl und sauerstoffreich ist. Im gut durchströmten Kiesbett der Bachsohle fühlen sich die Jungmuscheln wohl. Wird aber zu viel Sediment in die Bäche gespült, finden sie im Kies keinen Halt oder ersticken im Schlamm. Die Klimakrise mache sich in den letzten zwei Jahrzehnten immer stärker bemerkbar, sagt Jürgen Geist, Professor für Aquatische Systembiologie und Leiter der Koordinationsstelle für Muschelschutz an der Technischen Universität München. So fehle immer öfter die reinigende Wirkung der Schneeschmelze, und häufiger auftretender Starkregen verschärfe die Erosion. Zudem seien in den Hitzesommern 2003 und 2023 mehrfach die Perlmuschelgewässer Oberfrankens ausgetrocknet. Als Notmaßnahme mussten die Muscheln teils geborgen oder mit Wasser aus Tanklastzügen am Leben erhalten werden.
Die Klimakrise macht auch vor den Bächen nicht halt.
Die großen Süßwassermuscheln haben einen hoch spezialisierten Lebenszyklus, bei dem sie von bestimmten Wirtsfischen abhängig sind. So geben die weiblichen Flussperlmuscheln zur Fortpflanzungszeit im Frühjahr Hundertausende mikroskopisch kleine Larven ins Wasser ab, die sich binnen weniger Stunden an den Kiemen von Bachforellen festheften müssen, um überleben zu können. Dort versorgen sich die jungen Mitreisenden einige Monate mit Nährstoffen aus dem Blut der Kiemen, ohne dem Fisch jedoch ernsthaft zu schaden, bevor sie sich fallen lassen, um zwischen den Kieselsteinen im Bachbett ihr neues Zuhause zu finden.
Im Muschelkindergarten
Eine aktuelle Bestandserhebung der Perlmuschelbestände in Bayern, dem Verbreitungsschwerpunkt in Deutschland, belegt einen Verlust von fast 60 Prozent aller Tiere zwischen 2015 und 2023. Nur bei sechs von 22 Populationen konnte ein gesunder Anteil an Jungmuscheln vorgefunden werden. Es gebe aber auch Positives von den Flussperlmuscheln zu berichten, sagt Marco Denic, denn die Anstrengungen bei der Nachzucht und Wiederansiedlung von jungen Flussperlmuscheln zeigten erste Erfolge. In Zuchtstationen werden Muscheln für die Auswilderung vermehrt und aufgezogen. «Es dauert fünf bis acht Jahre, bis wir die Jungmuscheln so weit haben, dass wir sie aussetzen können», erläutert Denic.
Der komplizierte Lebenszyklus und die hohen Ansprüche der Muscheln machen die Zucht zwar zur Herausforderung, dennoch gab es durchaus schon Erfolge. So konnten in den letzten Jahren in Bayern bereits mehrere Tausend Jungmuscheln ausgewildert werden – und sie scheinen sich wohlzufühlen, wie das begleitende Monitoring-Programm zeigt. «Der erste Aufwärtstrend für die Art seit Jahrzehnten», freut sich Denic. Bleibt das Habitat intakt, haben die jungen Muscheln ein langes Leben vor sich. Flussperlmuscheln werden erst mit 12 bis 15 Jahren geschlechtsreif und können über 100 Jahre alt werden.
Schwammlandschaften
So vielfältig die Probleme wie Gewässerverbauung und -begradigung, Eintrag von Sedimenten oder der Anstieg der Wassertemperaturen sind, so klar lassen sich die Lösungen benennen: Statt das Wasser möglichst schnell über Drainagegräben und begradigte Bäche abzuleiten, sollte es so lange wie möglich im Boden und in der Vegetation gehalten werden. Dabei helfen strukturreiche Landschaftselemente wie Hecken, Feldgehölze, Streuobstwiesen und Brachen. Wenn die Landschaft das Wasser wie ein Schwamm aufsaugt und lange speichert, reduziert das die Erosion und damit den Eintrag von Sedimenten in die Gewässer. Verbauungen an Flüssen und Bächen – wie Wehre und Kleinwasserkraftwerke – sollten, wo immer möglich, entfernt oder für wandernde Arten passierbar gemacht werden, Moore und Feuchtgebiete sollten renaturiert werden.
Und schließlich ist es wichtig, den Gewässern grundsätzlich wieder mehr Raum zu geben, denn so können sie frei mäandrieren, über die Ufer treten und von Auenpflanzen begleitet werden. Nur auf diese Weise könnten sich Flüsse und Bäche gemäß ihrer natürlichen Dynamik entwickeln. Das Gute am Konzept der «Schwammlandschaft» ist, dass all diese Maßnahmen nicht nur seltenen Muscheln und wandernden Fischarten helfen, sondern auch den Klima- und Hochwasserschutz massiv verbessern.
Inspiration unter Wasser
Das Unterwasserreich der Muscheln ist eine faszinierende Welt, deren zahlreiche Facetten bislang nur wenig erforscht sind. Schaut man genauer hin, gibt es viel zu entdecken: Riesenmuscheln inspirieren die Entwicklung effizienterer Solarzellen, die Augen der Jakobsmuscheln helfen Forscher:innen bei der Konstruktion neuartiger Mikroskope, Muschelproteine dienen als Vorbild für chirurgische Kleber und im milchigen Blut der Sydney-Felsenauster finden sich heilende Proteine, die gegen antibiotikaresistente Erreger von Lungenentzündungen wirken. Ein nachhaltiger und sorgsamer Schutz der biologischen Vielfalt lohnt sich auch unter Wasser – wie uns die Muscheln beispielhaft vorführen. Wir sollten alles daransetzen, diesen Schatz zu bewahren. Denn nur dann können wir damit rechnen, dass diese vermeintlich unscheinbare Tiergruppe uns auch in Zukunft noch zahlreiche positive Überraschungen bescheren wird.
-
Die Klimaschützer im Reich der Dunkelheit
Meerestiere nehmen große Mengen Kohlenstoff auf und sorgen dafür, dass ein Teil davon in die Tiefsee gelangt, wo er für lange Zeit gespeichert bleibt.
-
Wo Tier- auch Klimaschutz ist
Wälder und Savannen bilden wichtige Kohlenstoffspeicher – solange Tier- und Pflanzenwelt dort in Balance sind. Mancherorts kippt das Gleichgewicht schon.