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Wie klimafreundlich kann Milch sein?

Ein Bericht von Leonie Jost

Intensive Milchwirtschaft erzeugt jede Menge Klimagase und globale Ungerechtigkeit. Ein Biohof in Niedersachsen zeigt, wie es anders geht.

Die Weide sah noch im Mai dieses Jahres üppig aus – und das im östlichen Niedersachsen, eine der trockensten Regionen Deutschlands. Auf dem Hof Tangsehl kümmert sich Annabelle Gérard gemeinsam mit ihrem Partner Christian Friebe um die Milchkühe und die Milchverarbeitung. «Die Art, wie wir hier wirtschaften, wurde im südlichen Afrika entwickelt. Ideal also für trockene Regionen», erklärt uns die Landwirtin, während sie ihre kleine Milchkuhherde auf eine frische Weide treibt. Umgehend machen sich die Kühe über Ampfer, Löwenzahn und Weidelgras her.

Vor drei Jahren haben wir unsere Viehhaltung komplett umgestellt.

Annabelle Gérard, Landwirtin 
auf dem Hof Tangsehl in Nahrendorf
Eine drahtige Frau steht in Arbeitskleidung und mit Käppi auf einer Weide, hinter ihr grasen Kühe.
Annabelle Gérard Foto: Kathrin Spirk

Nach dem Sommer 2018, in dem es hier wochenlang nicht regnete und sogar einige der Kühe aufgrund von Futtermangel geschlachtet werden mussten, hat Annabelle Gérard ihre Art zu wirtschaften zum ersten Mal grundlegend infrage gestellt. «Solche Ohnmachtsgefühle möchten wir nicht noch einmal erleben müssen», sagt sie. Doch durch die Folgen des Klimawandels wird es in Zukunft eher noch trockener werden. Also machten sie sich auf die Suche nach Alternativen zur herkömmlichen Weidewirtschaft – und wurden fündig. Inzwischen arbeiten sie im dritten Jahr nach den Prinzipien des «Holistic Management», dem ganzheitlichen Weidemanagement.

Anstatt die Kühe lange Zeit auf derselben Weide das Gras kurzfressen zu lassen, werden sie nun jeden Morgen auf ein neues kleines Weidestück getrieben. Da so die Pflanzen nicht allzu tief verbissen werden und die Flächen sich ausreichend erholen können, wächst alles schneller wieder nach. Durch die enger beieinanderstehenden Kühe wird der Boden außerdem intensiver gedüngt. Zwar hat sich der Arbeitsaufwand durch den regelmäßigen Umtrieb der Tiere um eine Stunde pro Tag erhöht, aber: «Wir haben mehr Futter für unsere Kühe – und wir haben sicherer Futter.»

Und das fressen die Kühe auf dem Hof Tangsehl fast ausschließlich direkt von den Weiden. Das mag auf den ersten Blick nicht verwundern, lohnt aber einer genaueren Betrachtung. Anders als Schweine oder Hühner sind Kühe in der Lage, ausschließlich von Gras und Klee zu leben. Denn als Wiederkäuer können sie – wie auch Schafe und Ziegen – die im Gras enthaltene Zellulose aufspalten und die dadurch frei werdende Energie nutzen. Dank ihrer vier Mägen kann den Kühen die für uns Menschen nutzlose Biomasse als Nahrung dienen.

Auf einer ausgedörrten Wiese stehen gescheckte und braune Kühe – hinter der Weide befindet sich ein Wald.
Auch der Sommer 2022 war viel zu trocken. Doch selbst im August fanden die Kühe auf dem Hof Tangsehl noch ausreichend zu fressen. Foto: Kathrin Spirk
Ein Mann und eine Frau stehen mit einem Jungen und einem Mädchen in einer Stalltür, vor ihnen liegt ein Hund.
Christian Friebe und Annabelle Gérard mit ihren beiden Kindern und Hütehündin Willa Foto: Kathrin Spirk
Nahaufnahme: Auf einem Holztisch im Freiem vermerkt jemand in einem Plan, welche Weideflächen wann genutzt wurden.
Das ganzheitliche Weidemanagement erfordert gute Planung und Zeit – der Aufwand zahlt sich aber aus. Foto: Kathrin Spirk
Die Landwirtin kniet auf einer trockenen Weide und hält ein Büschel Gras in ihrer linken Hand.
Annabelle Gérard auf einer Weide, die zuletzt vor 60 Tagen beweidet wurde. Das Gras ist trotz Trockenheit deutlich nachgewachsen. Foto: Kathrin Spirk
Ein Mann in kurzer Arbeitshose, grauem Shirt und Käppi trägt rote Weidezaunpfähle aus Metall über eine grüne Wiese.
Jeden Morgen steckt Christian Friebe ein neues Weidestück ab. Foto: Kathrin Spirk
Eine bunt gemischte Kuhherde läuft unter dem wachsamen Blick des Landwirts über eine naturbelassene Weidefläche.
Kurz danach werden die wartenden Milchküche auf die frische Parzelle getrieben, … Foto: Kathrin Spirk
Gescheckte und braune Kühe grasen auf einer saftigen Wiese, zwischen ihnen stehen vereinzelt Birken.
… wo sie auch nach der starken Trockenheit dieses Sommers ausreichend zu fressen finden. Foto: Kathrin Spirk

Milchwirtschaft: Segen oder Gefahr?

Die Milchwirtschaft steht aktuell stark in der Kritik, auch aufgrund dieser speziellen Art der Nahrungsaufnahme: Denn bei der Verdauung von Gras und Klee entsteht das Klimagas Methan. Laut Umweltbundesamt macht Methan mehr als die Hälfte aller landwirtschaftlichen Emissionen aus, ein Großteil davon entsteht bei der Verdauung der Wiederkäuer. Zwar ist Methan in der Atmosphäre nur rund zehn Jahre stabil, dabei jedoch 28-mal so klimawirksam wie CO2. Die Milchwirtschaft sieht sich daher seit einigen Jahren mit dem Vorwurf konfrontiert, den Klimawandel zu beschleunigen. Wie hoch die Treibhausgasemissionen letztendlich sind, hängt allerdings stark von der Art und Weise der Fütterung ab. 

Denn anders als die Kühe vom Hof Tangsehl, die mindestens sechs Monate im Jahr auf die Weide dürfen, stehen 70 Prozent der in Deutschland gehaltenen Milchkühe ihr ganzes Leben lang im Stall. Aus einem naheliegenden Grund: Es erfordert deutlich mehr Arbeitszeit, die Tiere jeden Tag vom Stall auf die Weide und wieder zurückzutreiben, als eine reine Stallhaltung.

Weidemilch: nur bei Biobetrieben die Regel

Um die Weidehaltung für landwirtschaftliche Betriebe rentabler zu machen, wird in Deutschland seit 2017 konventionelle Milch mit dem Label «Weidemilch» angeboten. Ein bis zweieinhalb Cent Aufschlag bekommen die Landwirte pro Liter Weidemilch. Das Label garantiert, dass die Kühe mindestens vier Monate im Jahr auf der Weide stehen. Obwohl Umfragen immer wieder belegen, dass sich Verbraucherinnen und Verbraucher genau das wünschen, kam Weidemilch im Jahr 2020 nur auf einen Anteil von 4,3 Prozent an der gesamten Trinkmilchmenge. 

Anders sieht es bei der Biomilch aus, denn die ist fast immer auch Weidemilch. Zumindest dann, wenn sie das Logo eines deutschen Bio-Anbauverbands wie Naturland, Bioland oder Demeter trägt, die eine Weidezeit von fünf bis sechs Monaten im Jahr vorschreiben. Nur das EU-Biosiegel verlangt keine Weidegänge.

Beim Konsum von Kuhmilch gilt es neben dem Auslauf für die Tiere zu bedenken, dass es Milch nicht ohne Fleisch geben kann. Denn sowohl die männlichen Kälbchen als auch die Kühe selbst werden irgendwann geschlachtet und ihr Fleisch verkauft. Zu jedem Liter Biomilch, so rechnet der Anbauverband Bioland vor, gehören etwa 25 Gramm Rindfleisch. Würde nur die Milch nachgefragt und nicht auch das Fleisch, könnte sich das aufgrund der dadurch resultierenden geringen Fleischpreise negativ auf die Haltungsbedingungen und das Tierwohl auswirken. 

Die Herde hat sich der Kamera zugewandt, einige Kühe schauen neugierig – über der Weide liegen feine Nebelschwaden.
Die Kühe vom Hof Tangsehl sind von frühmorgens bis abends auf der Weide. Foto: Kathrin Spirk

In Deutschland werden die meisten Milchkühe konventionell und überwiegend im Stall gehalten. Dort bekommen sie sogenanntes rohfaserreiches Grundfutter, wie Gras, Luzerne oder Heu. Um große Milchmengen geben zu können, brauchen die Tiere jedoch eine gleichbleibend hohe und gut kontrollierbare Futterqualität mit ausreichend Energie, weshalb sie zusätzlich Kraftfutter für ihren Energie-, Protein- und Nährstoffbedarf bekommen. Dies kann Roggen, Körnermais, Zuckerrübe, Raps- oder Sojaschrot sein – Kulturen also, die eigentlich auch wir Menschen essen könnten.

Kraftfutter: teuer, energie- und flächenintensiv

Hier gelangen wir zu einem kritischen Punkt: Durch die Fütterung mit großen Mengen von Kraftfutter werden Kühe zum Nahrungskonkurrenten für uns Menschen, was sie von Natur aus gar nicht sind. Die Produktion von Kraftfutter ist aufwendig, energieintensiv und teuer, zudem benötigt sie große Flächen Ackerland. Über die Hälfte des in Deutschland geernteten Getreides ist Futtermittel für Rinder, Schweine und Hühner. Um so viel Futter zu produzieren, wurden ehemalige artenreiche Grünland- oder Waldflächen zu artenarmen Ackerflächen umgewandelt, auf denen große Mengen Düngemittel, Pestizide und Diesel zum Einsatz kommen.

Heute sind in Deutschland 28 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche Grünland, dort werden also überwiegend Gräser oder krautige Pflanzen angebaut. Dieser große Bedarf entstand in Mitteleuropa erst aufgrund der Weideviehaltung. Würden wir diese einstellen, entstünde auf den Flächen nach und nach wieder Wald. Das bewirtschaftete Grünland wird entweder von Tieren als Weide genutzt oder dessen Gras wird gemäht, getrocknet und als Heu verfüttert. Als Grünland dienen oft Flächen, die für den Ackerbau nicht profitabel sind, weil sie zu nass, trocken oder steil sind – so wie im Alpenvorland oder in Küstennähe.

In vielen Teilen der Welt sieht es anders aus: Die Steppen in der Mongolei, die Savannen in Afrika oder die nordamerikanischen Präriegebiete, die «Great Plains», sind riesige natürliche Graslandflächen, auf denen größtenteils bis heute ausschließlich Weidewirtschaft möglich ist. «Für 60 bis 70 Prozent der Agrarflächen auf der Welt gibt es keine andere Art der landwirtschaftlichen Nutzung als mit Wiederkäuern», erklärt Johannes Isselstein von der Georg-August-Universität Göttingen, der seit vielen Jahren zur nachhaltigen Grünlandnutzung forscht. In den tropischen Regionen bilden Wiederkäuer – Rinder, Schafe und Ziegen – die Lebensgrundlage für etwa eine Milliarde Menschen. Und dabei geht es nicht nur um Nahrung: Außer Milch und Fleisch liefern Wiederkäuer auch wertvollen Dünger, sie werden zudem als Zugtiere und zur Lederherstellung genutzt. 

Schafe und Ziegen bewegen sich durch eine weite Grassteppe – am Horizont erstreckt sich ein Gebirgszug.
Schafe und Ziegen in der weiten Graslandschaft der Zentralmongolei Foto: Hendrik / Adobe Stock

Weidehaltung ist eine ideale Mischung aus Lebensmittelproduktion und Biodiversitätsschutz.

Prof. Johannes Isselstein, Agrarwissenschaftler an der Georg-August-Universität Göttingen

Zudem ist gut gemanagtes Grünland extrem artenreich und bietet Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten: 40 Prozent der in Deutschland gefährdeten Arten kommen hauptsächlich im Grünland vor. Auch aus Klimasicht ist es dem Acker vorzuziehen, speichert es doch aufgrund der permanent geschlossenen Pflanzendecke fünfmal mehr Kohlenstoff als Ackerflächen. 

Ein weiterer Pluspunkt für Grünland ist seine große Wasserreinigungs- und Speicherfähigkeit, wodurch es einen wichtigen Beitrag zum regionalen Wasserkreislauf leistet und Schutz vor Überschwemmung bietet. «Die Weidehaltung sehe ich als eine ideale Mischung aus Lebensmittelproduktion und Biodiversitätsschutz», sagt Isselstein. Hinzu kommen Tierwohlaspekte: «Auf der Weide zu grasen ist ein arttypisches Verhalten. Die Rinder haben sich ja nicht entwickelt, um auf Spaltenböden zu stehen und Kraftfuttermischungen aus dem Trog zu fressen.»

Größere Ställe, mehr Kraftfutter, mehr Milch

Welche Ausmaße die intensive, industrialisierte Milchviehhaltung inzwischen angenommen hat, untersucht Shefali Sharma, Direktorin des europäischen Büros des Instituts für Landwirtschafts- und Handelspolitik (IATP) in Berlin. Dort beobachtet sie die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen der globalen Milchindustrie. «Ich sehe die zunehmende Intensivierung absolut kritisch», sagt Sharma. «Die negativen Folgen für das Klima, die Umwelt und die bäuerlichen Familienbetriebe werden immer gravierender.» 

 

Eine Frau mittleren Alters mit schulterlangem Haar steht auf einer Brüstung und blickt freundlich in die Kamera.
Shefali Sharma, Leiterin des europäischen IATP-Büros in Berlin Foto: Kathrin Spirk

 

Zwar ist die Zahl der milchviehhaltenden Betriebe in Deutschland stark zurückgegangen (1970 gab es rund 750.000 Betriebe, 2021 waren es weniger als 55.000), die übrig bleibenden Betriebe werden dagegen immer größer. Mitte der 1990er-Jahre hielt ein Milchviehbetrieb im Durchschnitt knapp 27 Kühe, 2020 waren es bereits 70. In Mecklenburg-Vorpommern sind es sogar fast 250 Kühe pro Betrieb. Und noch etwas wurde in den vergangenen Jahren immer mehr: die Milchmenge, die eine Kuh pro Jahr gibt. Im Durchschnitt sind das heute fast 8.000 Liter jährlich, dreimal so viel wie noch 1950. Dafür müssen die Kühe nicht nur gezielt auf hohe Milchleistungen gezüchtet, sondern auch mit energiereichem Futter und ausreichenden Mengen wichtiger Nährstoffe versorgt werden. Anstrengend und kräftezehrend ist solch eine hohe Milchleistung für die Kühe trotzdem, weshalb fast 30 Prozent aller Milchkühe aufgrund von Fruchtbarkeits-, Stoffwechsel- oder Euterproblemen nur ein Jahr gemolken werden können.

Überproduktion – und folgenschwere Exporte 

Mit einem Umsatz von 27 Milliarden Euro im Jahr 2019 ist die Molkereiwirtschaft die mit Abstand größte Branche innerhalb der deutschen Ernährungsindustrie. Die von den Milchviehbetrieben an die Molkereien gelieferte Milch wird zu Trinkmilch, Käse, Butter, Joghurt und unzähligen weiteren Produkten verarbeitet und verkauft. Deutschland ist damit der größte Milcherzeuger der EU und produziert gut ein Fünftel der in Europa hergestellten Milch. Da der deutsche Markt jedoch gesättigt ist, wird die Hälfte der in deutschen Molkereien verarbeiteten Milch exportiert. Denn der Weltmarkt wächst enorm – und sowohl das Angebot als auch die Nachfrage nach Milch nimmt jedes Jahr weiter zu. Die EU ist ein wichtiger Ausführer von Milcherzeugnissen und bei Käse und Magermilchpulver sogar weltweit Spitzenreiter.

Durch die EU-Agrarsubventionen ist die Landwirtschaft in der Lage, Milch vergleichsweise günstig zu produzieren, mit gravierenden Folgen für Kleinbauern im Globalen Süden, die mit diesen Preisen nicht mithalten können. Das katholische Hilfswerk Misereor hat berechnet, dass nach Burkina Faso exportiertes europäisches Milchpulver zwei- bis viermal billiger ist als vor Ort produziertes. «Die Folgen für die vielen Kleinbauern im Land sind furchtbar», sagt Shefali Sharma. 

Es seien jedoch nicht die europäischen Milchviehbetriebe, sondern die Molkereien, die von diesem Exportgeschäft profitieren, so Sharma. «Durch die Überproduktion und die große Marktmacht dieser Unternehmen werden die Preise sowohl in Afrika als auch in Europa zum Teil unter die Produktionskosten gedrückt.» Zudem ist bei den Molkereien ein Konzentrationsprozess zu beobachten: Zehn der weltweit zwanzig größten Molkereien haben ihren Sitz in Europa. Die bekanntesten sind Nestlé (Schweiz), Danone (Frankreich), Arla Foods (Dänemark), DMK Deutsches Milchkontor (Deutschland) und Theo Müller (Luxemburg).

 

In einem industriellen Molkereibetrieb laufen unzählige Milchtüten über lange Förderbänder.
2021 wurden in Deutschland rund 32 Millionen Tonnen Kuhmilch produziert, etwa die Hälfte davon für den Export. Die gigantische Überproduktion hat, so Shefali Sharma, die Preise in Afrika wie auch in Europa teilweise unter die Produktionskosten gedrückt. Foto: Fotomy / 
dreamstime

Folgen der Intensivierung kaum im Fokus

Parallel zur global zunehmenden Milchproduktion steigen auch die Treibhausgasemissionen. Diese hat sich Shefali Sharma einmal genauer angesehen. 2020 veröffentlichte sie dazu den Bericht «Milking the Planet». Obwohl viele Branchen bemüht sind, ihre Emissionen zu verringern, wächst die Milchproduktion und der Export von Milchprodukten in der EU immer weiter. Und während 195 Regierungen im Jahr 2015 das Pariser Abkommen unterzeichnet und sich darauf geeinigt haben, die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen, haben die größten Molkereikonzerne allein in den darauffolgenden zwei Jahren ihre Emissionen um 11 Prozent vergrößert. 

 

«Milking the Planet» 

In ihrer Analyse kommen Shefali Sharma und ihr Team zu dem Ergebnis, dass die weltweit größten Molkereikonzerne ihre Milchproduktion von 2015 bis 2017 um 8 Prozent gesteigert haben – was zu einer erheblichen Zunahme der Treibhausgasemissionen geführt hat. Zeitgleich mussten zudem Tausende landwirtschaftliche und milchverarbeitende Klein- und Familienbetriebe aufgrund des Preiskampfs der Großkonzerne aufgeben. Lesen Sie hier den Bericht im Original (Englisch).

«Der öffentliche Druck auf andere Branchen nimmt zu, aber die Milch- und Fleischproduktion wird noch zu wenig beachtet», sagt Sharma. Und das, obwohl die Emissionen aus der deutschen Landwirtschaft zu den höchsten in der EU gehören. Es scheint jedoch, als würde die anhaltende Kritik Bewegung in die Branche bringen. So will unter anderem die deutsche Molkerei «Friesland Campina» ihre Treibhausgasemissionen senken und bis zum Jahr 2050 klimaneutral produzieren. Ihren im April 2022 veröffentlichten Klimaplan überprüft derzeit die internationale Organisation «Science Based Targets Initiative», der auch der WWF angehört, auf seine Wirksamkeit.

Auch die Welternährungsorganisation FAO fordert in einer gemeinsamen Veröffentlichung mit der «Global Dairy Platform», dass die Milchindustrie ihre Emissionen senken müsse. «Allerdings fehlen staatliche Regulierungen, die die Molkereiunternehmen dazu verpflichten, ihre Treibhausgasemissionen zu veröffentlichen. Besser noch wären verbindliche Reduktionsziele», so Shefali Sharma. Doch wie sind diese zu erreichen? Aus vereinfachender Sicht erscheint eine Intensivierung der Milchwirtschaft zunächst sinnvoll. Denn dass eine Kuh, die 10.000 Liter Milch pro Jahr geben kann, weniger Methan ausstößt als zwei Kühe vom Hof Tangsehl, die jeweils 5.000 Liter Milch geben, mag auf den ersten Blick einleuchten. Rechnet man im Hinblick auf das Treibhausgaspotenzial jedoch weitere Faktoren wie den Dieselverbrauch oder die Emissionen aus der Futterherstellung mit ein, ergibt sich ein anderes Bild: Laut einer Studie des Umweltbundesamts tragen allein die Futtermittel in der konventionellen Haltung 18 bis 34 Prozent zum Treibhausgaspotenzial bei, bei den ökologischen Betrieben sind es nur 6 bis 30. Werden noch andere Umweltkosten durch die Versauerung von Böden oder die Eutrophierung von Süßwasser berücksichtigt, so ist laut Umweltbundesamt ökologisch produzierte Milch von Kühen, die auf der Weide stehen dürfen, am umweltfreundlichsten. Am schlechtesten schneidet die konventionelle Milch aus den Ställen ab.

Auf einem endlos wirkendem Feld wird Soja mithilfe einer Erntemaschine in einen Anhänger befördert.
Sovweit das Auge reicht: Auf riesigen Flächen werden im brasilianischen Bundesstaat Bahia Sojabohnen als Futtermittel angebaut und geerntet. Foto: Diego Lezama / picture alliance

Hohe Emissionen sind kein technisches, sondern ein politisches Problem.

Shefali Sharma, Direktorin des europäischen Büros des Instituts für Landwirtschafts- und Handelspolitik (IATP) in Berlin

«Wir sollten Tiere nicht als Produktionsmaschine sehen, sondern als Teil eines ökologischen Systems», fordert Shefali Sharma. «Wir müssen Kompromisse finden. Eine echte nachhaltige Produktion kommt dabei im besten Falle Umwelt, Klima, Tier und Landwirten zugute.» Als wichtiges Steuerungsinstrument hin zu einer nachhaltigen Produktionsweise – im Sinne von ökologischer, ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit – sieht sie die Verteilung der europäischen Agrarsubventionen. «Die EU sollte die Landwirte unterstützen», so Sharma. In Europa wird die Landwirtschaft mit mehr als 50 Milliarden Euro pro Jahr subventioniert. In Deutschland machen diese Subventionen im Schnitt bis zu 50 Prozent der landwirtschaftlichen Einkommen aus – ein mächtiges Steuerungsinstrument also, das, so fordert auch Shefali Sharma, gezielter eingesetzt werden sollte, um eine nachhaltige, klimaschonende und dennoch rentable Landwirtschaft zu fördern.

Mehr Nachhaltigkeit durch Solidarität

Doch nicht nur auf politischem Wege ist es möglich, die Milchproduktion in die richtige Richtung zu lenken: Der zweite Hebel, um die Milcherzeugung nachhaltiger zu machen, ist eine Änderung unseres Konsumverhaltens, sprich die bewusste Entscheidung einer breiten Masse, künftig konsequent nachhaltig erzeugte Lebensmittel nachzufragen und zu beziehen. Genau diese verlässliche Nachfrage nach nachhaltig produzierter Milch erlaubt es Betrieben wie dem Hof Tangsehl, zu zeigen, dass Veränderungen möglich sind. Für Annabelle Gérard und Christian Friebe funktioniert das vor allem, weil ihr Hof nach den Prinzipien der «Solidarischen Landwirtschaft» funktioniert. Verbraucherinnen und Verbraucher zahlen dabei ein Jahr lang einen Fixpreis und erhalten dafür jede Woche einen Anteil der auf dem Hof produzierten und geernteten Erzeugnisse. Die Risiken für Ertragsausfälle werden so auf viele Schultern verteilt. Denn wenn es von einem Produkt in einem Jahr einmal wenig gibt, dann bekommen alle weniger. Wenn es mehr gibt, bekommen alle mehr. Der jährliche Beitrag ist dennoch der gleiche. Bei der Solidarischen Landwirtschaft geht es darum, einen Betrieb als Ganzes kostendeckend zu finanzieren – und dadurch auch eine nachhaltige, tiergerechte Landwirtschaft zu unterstützen, die mit einer herkömmlichen Bewirtschaftungsweise oft nur schwer möglich ist.

Aktuell denken Gérard und Friebe darüber nach, die Anzahl der angebotenen Ernteanteile zu vergrößern. Um auch dann noch alle Anteile mit ausreichend Milch und Käse bestücken zu können, reicht jedoch die erzeugte Milchmenge nicht aus. Würden sie also mehr Kuhmilch anbieten wollen, bräuchten sie mehr Kühe – und für diese natürlich mehr Futter. Das allerdings müsste zugekauft werden. Keine gute Idee, findet Gérard: «Wir möchten im Kreislauf wirtschaften und ausschließlich das Futter nutzen, was auch auf unseren Flächen wachsen kann.» Um dennoch mehr Milch anbieten zu können, spielen die beiden Landwirte mit dem Gedanken, Hafer für eine eigene Hafermilchproduktion anzubauen.

 Der Landwirt steht lächelnd inmitten eines Maisfelds – links lugt eine große Sonnenblume durch das dichte Grün.
Seit dem verheerenden Dürresommer 2018 bauen Annabelle Gérard und Christian Friebe auf ihren Flächen auch Futtermais an – in Mischkultur und damit deutlich bunter als beim Nachbarn, … Foto: Kathrin Spirk
Die Landwirtin treibt einige Kühe mit einem Quad über einen asphaltierten Weg – rechts befindet sich das Maisfeld.
… an dessen Feld vorbei die Milchbäuerin auf dem Elektro-Quad ihre Herde zurück zum Hof treibt. Foto: Kathrin Spirk
Ein im Fachwerkstil erbautes Bauernhaus in der Totalen: davor schaufelt Annabelle Gérard Heu in eine Schubkarre.
Vor dem abendlichen Melken verteilt sie das auf dem Hof produzierte Futter im Melkbereich … Foto: Kathrin Spirk
Eine kleines Kalb steht hinter einem Viehgatter und wird von Annabelle Gérard beäugt, neben ihr steht ein Hund.
… und versorgt auch die Kälber, die auf dem Hof Tangsehl erst nach drei bis vier Monaten behutsam von den Mutterkühen entwöhnt werden. Foto: Kathrin Spirk

Milchkühe behalten weiterhin die Hauptrolle

«Obwohl ich Milchbäuerin aus Leidenschaft bin, sehe ich Hafermilch als tolle Erweiterung unserer angebotenen Produkte», sagt Annabelle Gérard. Jedoch nur zusätzlich zur Kuhmilch – nicht als Ersatz. «Die Nachfrage unserer Kundschaft nach Hafermilch ist mittlerweile stark gewachsen.» Mit der ohnehin vorhandenen Molkerei auf dem Hof wäre die Infrastruktur, um Hafer zu Milch zu verarbeiten, eigentlich schon da. Doch ob sich die Hafermilchherstellung für Gérard und Friebe tatsächlich lohnt, hängt von vielen Faktoren ab und muss von ihnen erst noch einmal gründlich durchkalkuliert werden. 

So werden die Milchkühe auch weiterhin die Hauptrolle auf dem Hof von Gérard und Friebe einnehmen. Ihr wertvoller Dünger macht es auf Hof Tangsehl mit seinen sandigen Böden überhaupt erst möglich, Gemüse und Getreide anzubauen. Inzwischen haben die beiden Landwirte gelernt, ihre Kühe auch als Mittel zu sehen, um die Artenvielfalt zu erhalten, und den Boden als Kohlenstoffsenke zu fördern. Die Umstellung auf das ganzheitliche Weidemanagement, das außerdem den Wasser- und Nährstoffkreislauf schützt, hat sich jedenfalls auch in diesem Jahr ausgezahlt: Zwar hat es wieder einmal viel zu wenig geregnet, und im August, nach einem heißen, trockenen Sommer, sehen die Weiden alles andere als saftig und fruchtbar aus. Dennoch sei genug Futter da, so die Milchbäuerin. Und die Flächen erholten sich nach der Beweidung wieder deutlich schneller als noch vor ein paar Jahren. Annabelle Gérard und Christian Friebe sind froh, sich auf die Suche nach einem Lösungsweg gemacht und den Mut gefasst zu haben, diesen dann auch konsequent zu gehen. Heute, so sagen sie, sind sie zuversichtlich, dass ihr Betrieb für die Herausforderungen der Klimakrise gut aufgestellt ist.

 

Milch und die Alternativen – welche sind die nachhaltigsten?

Geht es um Umweltwirkungen, schneidet die Milch von Kühen im Vergleich zu pflanzlichen Alternativen mit Abstand am schlechtesten ab. Allerdings kann es bei Kuhmilch, je nach Haltung und Fütterung, zu großen Unterschieden im Treibhausgasausstoß kommen. Nichtsdestotrotz: Die Emissionen wie auch der Flächen- und Wasserverbrauch sind für Kuhmilch am größten. Am nachhaltigsten unter den Alternativen ist Hafermilch, die mittlerweile in Deutschland stark nachgefragt ist: Fünf Prozent der Trinkmilchmenge stammt inzwischen aus dem bei uns heimischen Getreide. Auch Soja-, Reis- oder Mandelmilch werden im deutschen Handel angeboten. Während das Soja im Tierfutter meist aus Südamerika importiert wird, werden die Sojabohnen für die Milch vor allem in Italien, Österreich und Frankreich angebaut. Auch Reis und Mandeln müssen importiert werden und verbrauchen zudem im Anbau große Mengen an Wasser. Übrigens: In der EU dürfen pflanzliche Milchalternativen nicht als «Milch» vermarktet werden und müssen deswegen im Supermarkt beispielsweise als «Drinks» angeboten werden.

Eine Grafik vergleicht Flächen- und Wasserverbrauch sowie Emissionen diverser Milchalternativen mit Kuhmilch.
Umweltauswirkungen verschiedener Milchdrinks pro Glas (200 ml) * Kuhmilch: Durchschnitt aus konventioneller und Bio-Produktion. Quelle der Daten: Poore & Nemecek (2018) / Grafik: Katrin Schoof

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08. November 2022 | Energiewende-Magazin