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Klimaflucht – der globale Norden schaut weg

Ein Gastbeitrag von Robert Muggah

Der Klimawandel wird viele Millionen Menschen die Heimat rauben. Politik und Wirtschaft müssen für Linderung sorgen – doch kaum etwas geschieht.

Eine sich weiter aufheizende Erde wird die Grenzen der menschlichen Lebensräume in den kommenden Jahrzehnten neu ziehen. Steigende Temperaturen und Wetterextreme beeinflussen schon heute, wie und wo Menschen leben und wirtschaften können.

Erste Hinweise auf das, was uns bevorsteht, zeigten sich bereits vor über zwanzig Jahren. In der Zeit vor dem Völkermord in der sudanesischen Region Darfur 2003 war die mittlere Regenmenge um ein Drittel gesunken. Schon länger gefährdete Weiden- und Wiesenflächen schrumpften schneller denn je. Schwelende Konflikte zwischen den Hirten und Bauern im Westsudan, angeheizt durch Machthaber und Strippenzieher, führten in Khartum zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Als die Waffen schließlich wieder verstummt waren, zählte man 300.000 Tote und mehrere Millionen Heimatlose. Darfur wurde zum Synonym für den ersten Klimawandelkonflikt der Welt. Auf einer Erde, die von steigenden Temperaturen, verheerenden Stürmen und Überschwemmungen geplagt wird, entpuppen sich Klimamigration und Katastrophenflucht zusehends als zentrale Probleme des 21. Jahrhunderts. Filippo Grandi, der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, schätzt, dass seit 2009 jedes Jahr über zwanzig Millionen Menschen aufgrund von Wetterextremen und anderen Folgen des Klimawandels vertrieben wurden. Obwohl die Auswirkungen des Klimawandels überall auf der Welt spürbar sind, gehören vor allem die ärmsten Regionen zu jenen, die am schlimmsten betroffen sind und sich am schnellsten aufheizen.

Hunderte Millionen zur Flucht gezwungen

Doch statt sich den Herausforderungen des Klimawandels zu stellen, stecken die meisten Regierungen, internationalen Interessenvertretungen, gemeinnützigen Organisationen und Größen der Privatwirtschaft kollektiv den Kopf in den Sand. Kurzfristiges Handeln überwiegt, statt auf Basis verlässlicher Prognosen, gezielter Vorbereitung und vorausschauender Planung zu agieren. Das ist gefährlich. Denn einzig schnelles und planvolles Handeln – zu dem auch gezielte Investitionen gehören, um die Folgen extremer Wetterereignisse oder anderer Klimawandelfolgen abzumildern und die Resilienz der Bevölkerung vor Ort zu stärken – kann verhindern, dass sich die Folgen der Umwelt- und Klimamigrationskrise zur vollen Katastrophe auswachsen.

Die Dimension des sich anbahnenden Migrationsaufkommens ist fast unvorstellbar. Je nach Prognose werden bis 2050 zwischen 200 Millionen und 1,2 Milliarden Menschen gezwungen sein, vor vernichtenden Hitzewellen und dem steigenden Meeresspiegel in andere Teile ihres Landes oder sogar ins Ausland zu flüchten, weil sie sonst um Leben und Besitz fürchten müssen. Das Ausmaß der bevorstehenden klima- und umweltbedingten Migration wird die schlimmsten Flüchtlingskrisen des 20. Jahrhunderts um Längen übertreffen und so die Kapazitäten der Hilfsorganisationen und der Neuansiedlungsprogramme der Aufnahmeländer überstrapazieren.

Schon heute verstärken Bedrohungen durch den Klimawandel die Umwelt- und Klimamigration. Steigende Temperaturen und extreme Wetterereignisse zwingen nicht nur ärmere Teile der Bevölkerung Afrikas, Asiens und der Amerikas in sicherere Gebiete. Längst leiden auch die ihnen Zuflucht gewährenden Regionen selbst schon unter den Folgen des Klimawandels. In einer sich allerorts erwärmenden Welt gibt es für viele wortwörtlich kein Entkommen mehr. Zu den am schlimmsten betroffenen Regionen zählt das Horn von Afrika, hier besonders Somalia, Äthiopien und Kenia, wo bereits über 30 Millionen Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sind. 2022 starb dort Schätzungen zufolge alle 36 Sekunden jemand an Hunger.

Unbewohnbare Hitzezonen

Erste Vorboten der bevorstehenden Katastrophen finden sich nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent. In Syrien herrschte zwischen 2007 und 2010 eine verheerende, anhaltende Dürre, der Nutztiere und Ernten zum Opfer fielen, wodurch 1,5 Millionen Menschen vom Land in die bereits überfüllten Städte gedrängt wurden. Die Binnenmigration und die Nahrungsknappheit gelten mitursächlich für die Unruhen, die dann zum harten Durchgreifen der Regierung und schlussendlich zu einem Bürgerkrieg führten. Gleichzeitig sorgen dicht aufeinanderfolgende Dürren und  Überschwemmungen in Ländern wie Guatemala und El Salvador für dramatische Ernteausfälle, wodurch auch hier Zehntausende zwangsläufig vom Land in die Städte ziehen müssen. Viele dieser Neuankömmlinge sind leichte Beute für brutale Gangs – was in letzter Konsequenz dafür sorgt, dass sie oft ihre Flucht fortsetzen müssen: nach Norden Richtung Mexiko und schließlich in die USA und nach Kanada.

In der Wissenschaft herrscht Einigkeit darüber, dass uns das Schlimmste noch bevorsteht. Bislang zählt nur ein Prozent der Erde als «kaum noch bewohnbare Hitzezone», 2050 könnte dies schon 20 Prozent betreffen. 2100 ist es möglicherweise schon so heiß, dass es tödlich wäre, in den Großstädten Süd- und Ostasiens mehrere Stunden unter freiem Himmel zu verbringen. Dem steigenden Meeresspiegel sind bereits acht Inseln im Westpazifik zum Opfer gefallen, weitere fünfzig könnten bis 2100 verschwinden. Die Menschen aus jener Region werden wohl zu den Ersten gehören, die sich als anerkannte Klimaflüchtlinge eine neue Heimat suchen müssen.

 

Vor einem hohen, mehrfach mit Stacheldraht gesicherten Zaun, stehen zwei weiß gekleidete Männer und sprechen mit Menschen schwarzer Hautfarbe, die dort eingesperrt sind.
Fast 20 Jahre nach Ausbruch des Darfur-Konflikts erreichten 2021 noch immer täglich neue Binnenvertriebene das Flüchtlingslager «Otash» im Sudan, in dem zu diesem Zeitpunkt über 250.000 Menschen lebten. Foto: Gregg Brekke / picture alliance

Unsichtbar vor dem Gesetz

Und doch fällt die Reaktion auf die bevorstehende Umwelt- und Klimamigration weltweit eher dürftig aus. Teil des Problems ist die rechtliche Einordnung der Betroffenen. Allgemein spricht man von Migration, wenn eine Person freiwillig ihr Land verlässt und ihre weiteren Bewegungen durch Einwanderungsbehörden und -gesetze bestimmt werden. Dies verhält sich anders bei jenen, die ihre Lebensräume aufgrund von Umweltveränderungen verlassen mussten – denn die meisten haben gar nicht die Wahl, frei zu entscheiden, ob sie bleiben wollen oder nicht. Diese Vertriebenen werden bei internationalen Abkommen wie beispielsweise der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 kaum berücksichtigt, obgleich diese der Grundpfeiler des weltweiten Asylsystems ist. Und obwohl ihre Misere immer mehr in den Fokus rückt, gibt es noch kein global gültiges Rechtsinstrument, das sie als «Klimaflüchtlinge» anerkennt. Dementsprechend können sie weder mit Hilfe noch mit Unterstützung rechnen.

Dadurch sind zahlreiche der am schwersten vom Klimawandel betroffenen Personen noch immer größtenteils unsichtbar vor dem internationalen Gesetz. Wenn allerdings dreimal mehr Menschen durch Dürren und Überschwemmungen zur Flucht gezwungen sind als durch bewaffnete Konflikte, muss dies als besorgniserregende Entwicklung gewertet werden. Die Folgen der Massenabwanderung aus Syrien 2015 haben gezeigt, dass schon ein relativ überschaubarer Zustrom nach Westeuropa gewaltige politische Auswirkungen mit sich bringt und nicht zuletzt populistischen Tendenzen starken Vorschub leistet. Der blinde Fleck im Asylrecht muss zwingend beseitigt werden, damit Entwicklungs- und Hilfsorganisationen diese Krise bewältigen können. Schließlich stammen 80 Prozent aller Flüchtlinge, die aktuell von UNHCR betreut werden, aus Ländern, die schlecht auf klimabedingte Herausforderungen vorbereitet sind.

Ohne adäquaten Rechtsschutz sind Klimaflüchtlinge einer ganzen Reihe an Unsicherheiten ausgesetzt. Zum einen könnten sie von extremistischen Parteien in den Zufluchtsländern als geopolitisches Risiko eingestuft und als Argument für eine strengere Einwanderungspolitik angeführt werden. Zum anderen birgt es aber auch Gefahren an den klimatischen Brennpunkten selbst, wenn sich nämlich nichtstaatliche Akteure die durchs Klima entstandenen Nöte zunutze machen. Das reicht von Bandenkriminalität in Zentralamerika bis zu extremistischen und terroristischen Vereinigungen in Teilen Westafrikas, die die Verdrängung der Bevölkerung aus klimatischen Gründen missbrauchen, um sich Land anzueignen oder um mit Menschenhandel oder durch Erpressung Profit zu schlagen. In Irak und Syrien haben politische Splittergruppen bereits damit gedroht, klimatisch motivierte Umsiedlungen zu provozieren, nur um bestimmte Volksgruppen zu terrorisieren und die Regierung in Zugzwang zu bringen.

Gemeinsame Initiativen statt neuer Barrieren

Problematisch sind auch schwache oder autokratische Staaten, die stümperhaft auf klimatische Herausforderungen reagieren oder diese bewusst nutzen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, so geschehen in Belarus. Dort wurden 2021 und 2022 große Gruppen irakischer Kurdinnen und Kurden mit geradezu zynischer Effizienz nach Polen, Litauen, Lettland und in andere Länder der EU weitergeleitet – Menschen, die ihre Heimat wegen des Klimawandels und eines defizitären Regimes vor Ort verlassen hatten.

Die meisten Entscheidungsträger wissen, dass die Lösung nicht darin bestehen kann, Barrieren zu errichten, um Neuankömmlinge schon an der Grenze zu stoppen, sondern dass es wichtig ist, vorab faire Regelungen für die Migrationsrouten zu treffen. Als Belege dafür dienen der «Globale Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration» und der «Globale Pakt für Flüchtlinge» von 2018. So hilfreich diese Initiativen auch sein mögen, sind dennoch weitaus anspruchsvollere Bemühungen vonnöten, um die Klimawandelfolgen abzumildern und die Anpassung und Widerstandsfähigkeit in den gefährdetsten Gebieten zu fördern.

Am wichtigsten ist dabei zweifellos die Abmilderung. Das Übereinkommen von Paris aus dem Jahr 2015 zeigt den Weg zur Klimaneutralität auf. Radikale Reduzierung von Treibhausgasemissionen, ein schneller Übergang zu grüner Energie und eine Ausweitung naturbasierter Lösungen bilden wichtige Eckpfeiler des Abkommens. Die unterzeichnenden Staaten haben nun unbedingt ihren Versprechen nachzukommen. Sie müssen zudem die Punkte der Ende 2022 in Montreal überarbeiteten Abmachung über die biologische Vielfalt umsetzen und ihre Zusagen mit entsprechenden Mitteln fördern. Vereinbarungen wie diese sind elementar, um die drohende Krise abzuschwächen. Doch um die Folgen der Umwelt- und Klimamigration aufzufangen, ist noch viel mehr nötig.

Schutzmaßnahmen im globalen Maßstab

Ebenso wichtig ist nämlich die Anpassung an die sich wandelnden klimatischen Bedingungen. Sie reicht von «sanften» Maßnahmen wie der Installation von Frühwarnsystemen und ausgefeilten Prognosemodellen bis hin zur Entwicklung von Saatgütern, die Dürren und Überschwemmungen standhalten können. Die direkte Unterstützung vor Ort ist ebenfalls entscheidend, um Lieferketten in gefährdeten Gebieten und deren Selbstverwaltung zu stärken. Zu den «harten» Maßnahmen gehören der Aufbau verschiedener Schutzstrukturen wie der Wiederherstellung von Küstenlinien und Sumpfgebieten sowie die Errichtung von Dämmen, um die Wirkung von Sturmfluten abzumildern, der Schutz und die Erweiterung von Waldgebieten, eine «biophile» städtische Infrastruktur und sogenannte Schwammstädte, wie es sie beispielsweise in China bereits gibt – als Antwort auf steigende Meeresspiegel und Extremwetterereignisse.

Um betroffene Gebiete widerstandsfähiger zu machen, mangelt es leider an genau den beiden Mitteln, die dazu besonders wichtig sind: an Planung und innovativer Finanzierung. Die Planung einer ungewissen Zukunft muss folglich weitaus stärker in nationale Entwicklungsszenarien und regionale Strategien einbezogen werden. Eine Mischfinanzierung – also eine finanzielle Hilfe von Entwicklungsbanken, Behörden, Hilfsorganisationen und privaten Spendern – ist entscheidend, nicht zuletzt für Staaten mit Liquiditätsproblemen. Manche Karibikstaaten setzen auch auf innovative Ideen wie «multilaterale Risikogemeinschaften», um die finanziellen Risiken potenzieller Katastrophen nicht allein schultern zu müssen.

Der Handlungsdruck wächst

Die verletzlichsten Regionen können jedoch nicht auf internationale Großzügigkeit warten – sie müssen schon heute auf den Klimawandel reagieren. Indonesien zum Beispiel verlegt aufgrund des steigenden Meeresspiegels und verschwindender Küstenbereiche bereits seine Hauptstadt Jakarta. Bangladesch mit seinen ungeschützten Flussdeltas macht seine Städte widerstandsfähiger und siedelt gefährdete Bevölkerungsgruppen um. Die Malediven entwickeln schwimmende Städte und ziehen in Betracht, ganze Landstriche aufzugeben und neue Lebensräume zu erschließen. Solch drastische und kostspielige Maßnahmen werden nur ergriffen, weil klar ist, dass Untätigkeit bei fortschreitendem Klimawandel letztlich nur zu noch höheren Kosten führen würde. Gleichzeitig müssen sich die Staaten den Herausforderungen der Klimakrise stellen, ohne dabei die Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit durch Gleichberechtigung, Inklusion, Barrierefreiheit, Förderung der Rechte indigener Gruppen und den Schutz Minderjähriger zu vernachlässigen.

Zu viele Worte, denen keine Taten folgen

Um auf diese Themen aufmerksam zu machen, hat der UN-Menschenrechtsrat 2022 einen Sonderberichterstatter für Menschenrechte und Klimawandel ernannt. Außerdem gibt es seit 2016 die von 19 UN-Staaten ins Leben gerufene «Plattform für katastrophenbedingte Vertreibungen». Und die «Internationale Organisation für Migration» hat ein Datenportal zur Umweltmigration geschaffen, um einen Ort zu haben, an dem Forschung und Ergebnisse über Umwelt- und Klimamigration zusammenlaufen. All diese Bestrebungen sind entscheidende Schritte in die richtige Richtung.

Regionale Reaktionen auf Umwelt- und Klimamigration der Afrikanischen Union, in Asien und in Lateinamerika sind dagegen oft nicht mehr als Ansätze, die nur auf dem Papier nach einem harten Durchgreifen klingen. Die USA und die EU wiederum haben kürzlich mit der Überarbeitung ihrer Strategien begonnen. Das Weiße Haus hat 2021 einen Bericht zu den Auswirkungen von Klimamigration veröffentlicht und das US-Verteidigungsministerium erklärte klimabedingte Verdrängung 2022 zur Priorität. Die EU fordert ihre Mitgliedsstaaten ebenfalls dazu auf, in Aktion zu treten, und betont, dass jede weitere Untätigkeit verheerende Folgen haben wird. Doch bislang wurden die Versprechungen weder mit strukturellen Hilfsmitteln unterfüttert noch irgendein Vorhaben umgesetzt. Keine der so dringend nötigen Maßnahmen wird Wirklichkeit werden, wenn nicht die reichen Nationen für Klimaschutz, Anpassung und Unterstützung der am stärksten gefährdeten Länder aufkommen. Sicher ist derzeit nur, dass das Überleben in einer sich immer weiter aufheizenden und unwirtlicher werdenden Welt einer gewaltigen gemeinsamen Anstrengung bedarf.

 

Übersetzung von Ulrike Brauns

Portrait eines kräftigen Mannes mittleren Alters, der ernst in die Kamera schaut.
Robert Muggah

Robert Muggah, 1974 in Toronto, Kanada geboren, ist Politikwissenschaftler, Autor und Sicherheitsexperte. Er ist Mitbegründer der Denk- und Ideenschmiede «Instituto Igarapé» aus Rio de Janeiro und der «SecDev Foundation» in Ottawa, die sich weltweit für die Stärkung der digitalen Widerstandsfähigkeit gefährdeter Gemeinschaften und Organisationen einsetzt. Muggah berät Regierungen und Städte sowie Organisationen der Vereinten Nationen und der Weltbank und schreibt Beiträge u.a. für Atlantic, El País, Foreign Affairs und New York Times.

Foto: Juan Dias

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30. Juni 2023 | Energiewende-Magazin