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Ein Ökodorf in Eigenregie

Eine Reportage von Anne Backhaus

Urbaner Lebensraum, gemeinsam ökologisch gestaltet – davon träumten einige Visionäre in den Niederlanden. Ein Besuch zeigt auf, was daraus wurde.

Gerwin Verschuur klettert kurz noch in den Wassergraben. Am Ufer des schmalen Flusslaufs hat sich eine leere Chipstüte im Gras verheddert. Der Besuch aus Südostasien schaut von oben zu. Unten angelangt, greift Verschuur, 52, mit silbern durchzogenem Haar, schwarzen Jeans und Lederjacke, nach dem Plastikmüll. Er knüllt die Tüte zusammen und stopft sie in seine Jackentasche. Wo er schon mal da ist, wirft er schnell noch einen prüfenden Blick nach links und rechts. Der Rest des Ufers ist sauber. Verschuur steigt wieder hoch und nickt dem Besuch zu. Die Führung kann beginnen.

Ein Dorf als Lehrstück

Zu Besuch ist eine Filmemacherin, eigens aus Taiwan angereist, um sich den Ort zeigen zu lassen, über den sie in einigen Monaten einen Dokumentarfilm drehen möchte. Der Ort, das ist EVA-Lanxmeer – eigentlich mehr ein Wohngebiet, gelegen am südwestlichen Rand der 30.000-Einwohner-Gemeinde Culemborg in den Niederlanden. Von der Landstraße aus betrachtet, Kartoffelfelder und Apfelbaumplantagen im Rücken, wirkt die vorderste Häuserreihe auf den ersten Blick eher unauffällig. Zur Linken ein kleiner Parkplatz, daneben der Graben. Nichts Besonderes. Doch der unspektakuläre Eindruck trügt: EVA-Lanxmeer gilt weltweit als Musterbeispiel für energieeffizientes, umweltfreundliches und gemeinsam gestaltetes Wohnen.

 

An einer buschgesäumten Kreuzung stehen ein Flachbau und zwei glasverkleidete Gebäude, dahinter eine Reihe von Giebelhäusern in kräftigen Farben.
Bei aller architektonischen Vielfalt: In EVA-Lanxmeer steht Energieeffizienz immer im Vordergrund. Klassische Niedrigenergiehäuser mischen sich mit begrünten Flachbauten und Wohneinheiten, die von Gewächshäusern umschlossen sind. Foto: Maria Feck

 

Das nachhaltige Stadtquartier ist das Ergebnis einer privaten Initiative um die Gründerin Marleen Kaptein, die in den 1990er-Jahren eine fast schon utopische Vision formulierte: urbaner Lebensraum, selbstgestaltet und -verwaltet von einer aktiven Lebensgemeinschaft, die besonderes Augenmerk auf den Umweltschutz richtet. Kaptein hatte keine Ahnung, was auf sie zukommen würde. Eine der größten Herausforderungen war es, überhaupt eine Fläche zu finden, die groß genug für eine Siedlung war, aber nicht völlig abseits der Zivilisation lag.

Nach einjähriger Suche konnte sie schließlich die Stadt Culemborg überzeugen, sie bei ihrem Plan zu unterstützen. Der neue Gemeindeteil durfte – abgesehen von wenigen Auflagen wie der Bauhöhe – frei gestaltet und in den meisten Fragen selbst verwaltet werden, blieb aber immer an die Stadtverwaltung Culemborgs angegliedert. Kapteins Mitstreiterinnen und Mitstreiter waren niederländische Intellektuelle, die sich, wie sie selbst, in EVA-Lanxmeer niederließen, den Ortsteil von Beginn an gemeinsam mit ihr planten und schließlich tatsächlich bauten. Von 1994 bis 2009 entstand ein Großteil der Häuser.

Ideal wird real

Eine ältere Dame mit kurzen grauen Haaren sitzt auf ihrer Terrasse.
Eine Visionärin hat ihr Zuhause gefunden: Marleen Kaptein in ihrem Ökogarten. Foto: Maria Feck

Das «EVA» im Ortsnamen steht für «Ecologisch Centrum voor Educatie, Voorlichting en Advies», also ein ökologisches Zentrum für Bildung, Informationen und Beratung. Kaptein wollte von Beginn an allen Interessenten veranschaulichen, wie ein effizienter Umgang mit Energie und Wasser, kombiniert mit ökologischer Architektur und einer natürlichen Lebensumgebung, realisierbar ist – mit fühlbarem Komfort für die Bewohner. Also kurz gesagt: ökologisch korrektes Wohnen, das zusätzlich die Lebensqualität der Menschen steigert. Und das möglichst autark und unabhängig von Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgern.

Was sich damals für viele nach Ökospinnerei anhörte, ist Wirklichkeit geworden – und damit zu einer Art Pilgerstätte, die Menschen aus der ganzen Welt anzieht. Gerwin Verschuur führt inzwischen wöchentlich durch die Wohnanlagen. Tausende Besucher waren schon da. Meistens sind es nicht nur einzelne Interessenten, sondern Gruppen von bis zu 15 Personen: Architekten, Stadtplaner, Journalisten, Privatpersonen oder auch Nachhaltigkeitsinitiativen, die lernen wollen, wie man hier lebt. «Sehr gut», sagt Verschuur dann und lacht. «Aber im Ernst: Aus EVA-Lanxmeer zieht niemand weg, Scheidungen und Tod ausgenommen. Es gibt viel Natur. Man hat sein eigenes Haus, aber trotzdem eine enge Beziehung zu seinen Nachbarn. Und man übernimmt Verantwortung für die Umwelt.»

Es gibt lange Wartelisten für die Häuser hier, auf denen vor allem junge Familien aufgeführt sind. Der Traum von einem friedlichen Leben, im Einklang mit der Natur und den Nachbarn, ist nicht in die Jahre gekommen. Vielleicht ist die alte Vision von Marleen Kaptein heute sogar gefragter denn je.

Warum sollte jeder einen eigenen Rasenmäher haben? Das ist doch absurd!

Gerwin Verschuur, Anwohner

EVA-Lanxmeer erstreckt sich über eine Fläche von gut 30 Hektar. Die Gemeinde hat einen eigenen Badesee und eine natürliche Wasseraufbereitungsanlage, fünf Büro- und mehrere Schulgebäude. Außerdem gibt es gleich neben der Landstraße einen ökologischen Landwirtschaftsbetrieb, der in einem kleinen Hofladen saisonales Obst und Gemüse anbietet. Rund um den Ortsteil liegen drei Parkareale, auf denen die Autos der Einwohner stehen. «So sind sie nicht zu sehen, und das mögen wir lieber als überall Blech», sagt Verschuur. Wer viel eingekauft hat, darf zu Hause vorfahren, muss den Wagen dann aber wieder aus dem Wohngebiet bringen – in Schrittgeschwindigkeit, versteht sich, denn auf den Straßen im Wohngebiet spielen überall Kinder. Es gibt bereits einige Elektroautos, acht neue sollen bald gemeinschaftlich erworben werden. Seinen eigenen Wagen hat hier kaum noch jemand. Rasenmäher auch nicht.

Ein Mann in schwarzer Lederjacke deutet auf Schilfpflanzen, den Hintergrund säumen Giebelhäuser in kräftigen Farben.
Gerwin Verschuur am Ufer des ortseigenen Badesees: Auch mit dem natürlichen Wasseraufbereitungssystem von EVA-Lanxmeer kennt sich der Touristenführer und Direktor des lokalen Energieunternehmens bestens aus. Foto: Maria Feck
Auf einem Waldweg tummeln sich Kinder, beobachtet von einer Erzieherin. Ein blondes Mädchen sitzt in einer umgedrehten Schubkarre und isst Eis.
Während der Schulpausen nutzen die Grundschüler ein kleines Waldstück neben dem Schulgebäude. Auch auf den Dorfstraßen haben die Kinder Vorfahrt – denn die Autos der Bewohner bleiben außerhalb der Gemeinde. Foto: Maria Feck
Hinter Gartenhecken mehrere Reihenhäuser; am Horizont ragt ein zylindrischer Turm zwischen Bäumen empor.
Die Häuser und Wohnanlagen gruppieren sich um den Wasserturm mit seiner Wärmepumpe. Von dort werden alle Einwohner mit Wasser und Wärme versorgt. Foto: Maria Feck
Schafe zwischen niedrigen Obstbäumen von fast bizarr anmutendem Wuchs
Schafe grasen unter den alten, knorrigen Bäumen der Apfelbaumplantage. Einige dieser Apfelsorten gibt es in den Niederlanden sonst gar nicht mehr. Foto: Maria Feck
Gebündelte und lose violett-rote Rübenpflanzen liegen sortiert in drei blauen Kunststoffkisten.
Gesund, lecker und lokal angebaut: Ein ökologischer Landwirtschaftsbetrieb ganz in der Nähe bietet in seinem Hofladen saisonales Obst und Gemüse an. Foto: Maria Feck

Engagement und Gemeinschaft

Im Gehen drückt Gerwin Verschuur eine schief gezimmerte Gartenpforte auf, hält den Ast eines Pflaumenbaums hoch, damit die Filmemacherin darunter durchschlüpfen kann, und erklärt, was sein Zuhause ausmacht. Schnell wird klar: Vorrang hat die selbstorganisierte Gemeinschaft, verantwortlich für alle ökologischen Vorzeigeprojekte. Viele übernehmen gleich mehrere Jobs im Ort. So ist Gerwin Verschuur nicht nur Touristenführer, sondern betreut auch die Homepage der Gemeinde und ist außerdem Direktor des lokalen Energieunternehmens «Thermo Bello». Die Firma beliefert seit 2009 alle Bewohner mit Wärme – inzwischen gehört sie ihnen auch.

Der gesamte Bezirk wurde rund um eine Wasserpumpanlage angelegt, die alle Einwohner mit Wasser versorgt. Die ehemaligen Betreiber der Anlage konzentrierten sich ausschließlich auf die Förderung von Trinkwasser. Als sich die Möglichkeit bot, entschied die Bewohnergenossenschaft, den Betrieb zu übernehmen und zusätzlich, mithilfe des geförderten Wassers, Wärme zu generieren. Die Temperatur der Quelle, aus der das Wasser kommt, liegt bei konstant zwölf Grad Celsius. Eine Wärmepumpe nimmt thermische Energie aus dem Wasser auf, dessen Temperatur dann um circa zwei Grad Celsius abfällt, und befördert die Energie als Nutzwärme zu den örtlichen Haushalten. Die Häuser sind dafür ausgerichtet und mit speziellen Wand- oder Fußbodenheizsystemen ausgestattet. Fast der gesamte lokale Wärmebedarf kann durch die thermische Nutzung des Trinkwassers gedeckt werden, nur an sehr kalten Wintertagen springt zusätzlich ein Gasboiler an.

Das zwei Hektar große Gelände der Pumpanlage ist größtenteils öffentlich zugänglich und wird in einem möglichst naturnahen Zustand belassen. Am Ende einer Allee aus hohen Pappeln ragt ein Wasserturm empor. In der Apfelbaumplantage nebenan grasen Schafe unter alten, knorrigen Bäumen. Drumherum steht das Gras kniehoch, die Luft surrt von Insekten und die umliegenden Häuser ruhen wie träumende Enten inmitten des wuchernden Grüns.

Selbstbestimmtheit und Ökobilanz

320 Haushalte gibt es in EVA-Lanxmeer, in den meisten davon leben auch Kinder. Das entspricht gut 1.000 Bewohnern. Ein Großteil lebt in Wohneinheiten von jeweils 18 Häusern, die einen gemeinsam genutzten Innenhof umschließen. In so einem steht Gerwin Verschuur nun, von allen Seiten wachsen ihm Früchte entgegen. Er bietet Johannisbeeren und Kirschen an, zeigt einen Pizzaofen, den Stolz der Hofgemeinschaft. Einmal im Monat kommen alle Bewohner des Häuserblocks zusammen und besprechen, was in den folgenden Wochen zu tun ist. Wer die Bäume beschneidet, wer die Äpfel pflückt oder wer den Pizzateig für den nächsten Nachbarschaftsabend mitbringt.

Wer hierher zieht, macht das ohnehin nur, wenn er sich einbringen will.

Gerwin Verschuur, Direktor des Energiewerks «Thermo Bello»

«Alles hier basiert auf der Gemeinschaft und gemeinsamen Entscheidungen», sagt Verschuur. «Es wird aber niemand gezwungen, an jedem Treffen teilzunehmen. Wir sind gegen Vorschriften. Wer hierher zieht, macht das ohnehin nur, wenn er sich einbringen will.» Die Nachbarschaft setzt sich zusammen aus einer Mischung aus Sozialwohnungen, gemieteten Einfamilienhäusern und selbstgebauten Häusern im Besitz ihrer Bewohner. Gerwin Verschuur hat 330.000 Euro für das zweistöckige Reihenhaus bezahlt, in dem er mit seiner Frau und den drei Söhnen lebt. In fünf Minuten sind sie zu Fuß an der Bahnstation. Von da können sie viermal pro Stunde in das 20 Kilometer entfernte Utrecht und von dort schnell nach Amsterdam oder Rotterdam fahren. In Städte also, in denen sie sich, wenn überhaupt, nur eine kleine Wohnung leisten könnten. «Und da kann man dann nichts selbst entscheiden und schon gar nicht an der eigenen Ökobilanz arbeiten», sagt Verschuur.

In drei Reihen sind Photovoltaik-Module an der steilen Dachfläche eines Wohnhauses montiert.
Umweltfreundliche Architektur ausdrücklich erwünscht: Nahezu alle Häuser in EVA-Lanxmeer haben eine Solaranlage auf dem Dach. Viele sind zudem aus nachhaltigen und umweltgerechten Materialien gebaut. Foto: Maria Feck

Sein Haus ist fast vollständig aus nachhaltigen Materialien gebaut. Die Lehmwände sind mit einer Farbe auf Kreidebasis geweißt. Wie bei nahezu allen Häusern in EVA-Lanxmeer gibt es eine Solaranlage auf dem Dach. Die Familie Verschuur wirft keine Nahrungsmittel weg. Alles, was eingekauft wurde, muss aufgegessen werden oder wird notfalls zum Smoothie gepresst. Gas nutzen sie, wie bereits gut die Hälfte der Einwohner, möglichst gar nicht mehr. In der gesamten Gemeinde soll Fossilenergie bis zum Jahr 2040 komplett durch alternative Energie ersetzt werden. «Die Energiewende ist für mich eng damit verbunden, endlich vollständig auf Fossilenergie zu verzichten», sagt Verschuur. «Derzeit suchen wir neue Wärmequellen und wollen noch mehr mit Solarenergie arbeiten, wie zum Beispiel den Parkplatz mit Solarzellen überdachen und so die Elektroautos laden.»

Architektur und Freiheit

Die Straßen im Ort sind nach niederländischen Dichtern und Literaten benannt. Einige Häuser haben Grasdächer, die nicht nur Lebensraum für Insekten bieten, sondern auch den Innenraum kühlen und das Regenwasser abfangen. Jeder, der nach EVA-Lanxmeer zieht, muss der Bewohnergenossenschaft beitreten und einen Vertrag unterzeichnen, der die nachbarschaftlichen Ziele und Regeln festhält. Dazu gehört unter anderem der Umgang mit Autos, aber auch der Verzicht auf Putzmittel mit Bleiche, die das sensible System der biologischen Wasserkläranlage aus dem Gleichgewicht bringen würden.

Baupläne müssen von der Quartiergemeinschaft bewilligt werden. Menschen- und umweltfreundliche Architektur ist natürlich ausdrücklich erwünscht, ein visuelles Erscheinungsbild wird allerdings nicht vorgeschrieben. So stehen am Rand des kleinen Badesees dänisch anmutende Holzhäuser in Rot, Gelb und Blau im Schilf. Daneben ragt die mehrstöckige, anthroposophische Grundschule mit ihren zehn verschiedenen Fenstergrößen gewagt empor. Wer sie umrundet, steht bald vor einem besonders ungewöhnlichen Bau: ein schmales, zweistöckiges und langgezogenes Mehrfamilienhaus – ummantelt von Glas. Die Idee, eine Wohneinheit in ein gigantisches Gewächshaus zu bauen, hatte der deutsche Architekt Peter Wienberg.

Für uns zählt die Kombination aus Nachhaltigkeit, relativ preiswertem Bauen und der Freiheit, so ein Haus überhaupt umsetzen zu können.

Peter Wienberg, Architekt
Entspannt sitzt ein älterer Herr mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Rattansessel neben einem Holztisch. Vor der unverputzten Wand hinter ihm wächst eine baumgroße Pflanze.
Ein Haus im Gewächshaus: Architekt Peter Wienberg wohnt selbst in dem ungewöhnlichen Bau, den er vor Jahren geplant hat. An das Wohnzimmer schließt sich eine Art Wintergarten an, in dem sogar Kiwipflanzen wachsen. Foto: Maria Feck
Hinter einer spiegelnden Glassfassade sind Innenwände Vorhänge und fast haushohe Pflanzen zu erkennen.
Blick von außen auf das zweistöckige Gebäude unter dem Gewächshaus. Der Raum für die Pflanzen, die das Raumklima fördern, und der Wohnraum gehen fließend ineinander über; alles ist lichtdurchflutet. Foto: Maria Feck
Blick von oben auf einen hölzernen Esstisch, dahinter eine Verandatür. Durch eine durchgehende Glasfassade fällt Tageslicht auf die verschiedenen Pflanzen, die den Innenraum durchranken.
Ein Esstisch unter Weinreben und einem Feigenbaum. Die Luft in Wienbergs Bau ist nicht etwa stickig, wie man es von einem Gewächshaus erwarten könnte, sondern angenehm frisch und belebend. Foto: Maria Feck

 

Wienberg, 57, wohnt selbst dort. Von innen drückt sich seine mehrere Meter hohe Kiwipflanze, die die Hauswand zu seinen Nachbarn überragt, an das Glas. Die ebenfalls gläsernen Türen seines weitläufigen Wohnzimmers öffnen sich zu einer Art Wintergarten-Patio, überwachsen von Weinreben. In der Mitte steht ein großer Esstisch. Zwei weitere Türen führen auf die Terrasse. Die Übergänge von draußen nach drinnen sind fließend, der Wohnraum ist von Licht durchflutet. Und die Luft ist frisch, nicht so stickig wie normalerweise in Gewächshäusern. «Es wird hier drin auch nie wärmer als draußen», sagt Wienberg, der seit 16 Jahren mit Frau und Kindern in EVA-Lanxmeer lebt. «Es gibt einen Schornsteineffekt zwischen den Lüftungsklappen, das sorgt für ideale Ventilation.»

Während eines Auslandssemesters in Delft hatte Wienberg 1985 seinen Kompagnon Arjan Karssenberg kennengelernt. Sie starteten mit gemeinsamen Bauprojekten und gehörten bald zu den Pionieren des sozialen und nachhaltigen Wohnungsbaus, auch dank ihrer Gewächshausbauten. «Die Häuser sind relativ preiswert, weil man für die Glaseinheiten vorgefertigte Teile aus Großserien verwenden kann», sagt Wienberg. Im Winter entsteht durch die Haushülle außerdem ein thermischer Puffer. Der Wärmeverlust ist deshalb geringer, so wird Energie eingespart. «Nur zum Energiesparen lohnt sich allerdings ein Passivhaus mehr», so der Architekt. «Für uns zählt aber die Kombination aus Nachhaltigkeit, relativ preiswertem Bauen und der Freiheit, so ein Haus überhaupt umsetzen und mit anderen zum Leben erwecken zu können.»

Neid und Fragen

Bei seiner Führung deutet Gerwin Verschuur auf den Gewächshausbau und sagt: «Auch wegen so was werden wir in den Kneipen in Culemborg sicher von einigen als merkwürdige Ökohippies angesehen. Manche sind aber auch einfach neidisch, weil wir uns trauen, nach unseren Wünschen zu leben.» Die Bewohner in EVA-Lanxmeer beschreibt er als größtenteils «sehr gut ausgebildet» – und vor allem: «privilegiert». Das internationale Interesse an der selbstorganisierten Gemeinschaft von EVA-Lanxmeer scheint Verschuur zu bestätigen. Die Hauptfrage der Besucher ist dann auch meist: Wie kann so etwas bei uns funktionieren?

 An einem dicht buschbewachsenem Hang oberhalb einer Straße steht eine Wohnanage mit einem Dreigiebeldach aus Glas.
Auch die Nachbarn von Peter Wienberg setzen auf verglaste Vorbauten – allerdings nur beim ersten Stock, der auf ein solide gemauertes Erdgeschoss aufsetzt. Foto: Maria Feck
Hinter den schilfbewachsenen Ufern eines kleinen Sees kauern sich Giebelhäuser in kräftigen Farben aneinander, dahinter mehrere Baumreihen als Windschutz.
Im Herzen des Dorfes liegt der kleine Badesee. Auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Bebauung und ortsgerechter Bepflanzung legen die Planer und Bewohner großen Wert. Foto: Maria Feck
Vier dreistöckig angelegte Wohnblöcke mit Holzverschalung und leicht auskragenden Balkons inmitten üppiger Vegetation.
Dieses Mehrfamilienhaus liegt inmitten wildwachsender Wiesen mit unterschiedlichsten Blumen und Gräser wachsen. Derartige Grünflächen locken viele Insekten an, die andernorts kaum noch unberührte Lebensräume finden. Foto: Maria Feck
Ein Mann in legerer Haltung und Freizeitkleidung steht auf dem grasbewachsenen Vorbau seines Hauses.
Einige der Hausbesitzer haben sich für die Bepflanzung der Flachdächer entschieden. Das ist nicht nur gut für Insekten, sondern auch für die Wärme- und Schalldämmung und nützlich als Drainage mit Speichereffekt. Foto: Maria Feck
Von innen durch eine Glasfassade aufgenommener Ausblick auf eine Handvoll Häuser unterschiedlichster Bauart
Ausblick auf die Vielfalt der Architektur in EVA-Lanxmeer. Sie spiegelt die geistige Freiheit und zeigt das Selbstbewusstsein der Einwohner. Foto: Maria Feck

«Es gibt eine immer größer werdende Lücke zwischen dem ökologischen Bewusstsein, das Menschen inzwischen haben, und den Gesellschaften, in denen sie leben», sagt Verschuur. Der Rundgang endet vor seinem Haus. Sein selbtsgestaltetes Heim im Rücken, setzt er hinzu: «Menschen könnten weitaus selbstverantwortlicher für ihr Leben und unsere Umwelt sein. Die Verantwortlichkeit wird ihnen aber von Systemen genommen, die Freiheit und Individualität begrenzen. Damit fühlen sich Menschen nicht wohl, und deswegen beteiligen sie sich dann nicht.» Ein eigenes System setzt jedoch neben mentaler Freiheit auch einen ganz realen Ort für die Umsetzung voraus. Was die Stadt Culemborg den Gründern von EVA-Lanxmeer allein durch die Bereitstellung von 30 Hektar Land ermöglicht hat, ist in den meisten Städten, die oft nicht einmal mehr ausreichend Wohnraum für alle Stadtbewohner zur Verfügung stellen können, nahezu unvorstellbar.

Trotzdem – oder gerade deswegen – wurden allein in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren knapp 180 Ökosiedlungen ins Leben gerufen; zu den bekanntesten gehört das «Ökodorf Sieben Linden» in Sachsen-Anhalt. Außerdem gibt es europäische Projekte, wie zum Beispiel «Tamera», eine Mitte der 1990er-Jahre gegründete Arbeits- und Lebensgemeinschaft im Süden Portugals. Dort leben gut 170 Menschen aus vielen Ländern Europas, aber auch aus den USA oder dem Nahen Osten. Sie sehen ihren Zusammenschluss als ein «Friedensforschungszentrum» und «Heilungsbiotop».

EVA-Lanxmeer wirkt dagegen, bei allem Bemühen um Nachhaltigkeit und positive Gruppendynamik, angenehm bodenständig. Es macht vielleicht schon einen gewaltigen Unterschied, wenn alle sich nach leeren Chipstüten bücken. Im Kleinen wie im Großen Verantwortung zu übernehmen, scheint jedenfalls anziehend zu sein: Der Terminkalender von Gerwin Verschuur ist bis ans Jahresende gut mit Besichtigungsterminen gefüllt.

 

Ortsplan: Aufsicht auf den Ort EVA-Lanxmeer mit seinen Grün- und Wasserflächen

Über EVA-Lanxmeer

Die ökologische Lebensgemeinschaft ist Teil der Gemeinde Culemborg in den Niederlanden. Die 240 Häuser wurden zwischen 1994 und 2009 mit dem Ziel gebaut, dort möglichst umweltfreundlich und selbstverwaltet zu leben. Die Gründerin Marleen Kaptein war von Beginn an überzeugt, dass Menschen die Möglichkeit haben sollten, ihre Umgebung zu gestalten und Verantwortung zu übernehmen. Kern all ihrer Überlegungen ist die Gemeinschaft der Bewohner von EVA-Lanxmeer, die bis heute über jede Veränderung abstimmt.

 

Titelfoto: © Xavier Testelin / Getty Images

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17. September 2018 | Energiewende-Magazin