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Die Zukunft liegt im Pleistozän

Ein Bericht von Angelina Davydova

Sergei und Nikita Zimov wollen das ursprüngliche arktische Ökosystem wiederherstellen, um damit den Permafrostboden vor dem Auftauen zu Bewahren.

Wer das erste Mal von Sergei und Nikita Zimovs Plan hört, muss sie für verrückt halten: Mit einem Großexperiment im Nordosten Sibiriens wollen Vater und Sohn beweisen, dass es möglich ist, das Auftauen der Permafrostböden zu stoppen oder zumindest zu bremsen – und damit den Kohlendioxidausstoß auf der Welt zu begrenzen. Rund ein Sechstel der Erdoberfläche wird vom Permafrost bedeckt; der größte Teil davon liegt in Sibirien, wo er Tiefen bis zu 1.500 Meter erreichen kann. Praktisch im Alleingang setzen sich der 35-jährige Nikita und sein 63-jähriger Vater gegen das Schmelzen des Permafrostbodens in ihrer Heimat zur Wehr.

Das ist eine tickende Kohlenstoffbombe.

Nikita Zimov, Mathematiker, Tscherski, Sibirien

Die Zimovs wollen das ursprüngliche arktische Ökosystem wiederherstellen – so wie es bis vor 12.000 Jahren im Pleistozän aussah, dem «Eiszeitalter», wie dieser Zeitabschnitt der Erdgeschichte auch genannt wird. «Wir versuchen, Großtiere wie Bisons und Kalmücken-Rinder und Moschusochsen wieder einzuführen», erklärt Nikita Zimov, «denn deren Anwesenheit unterstützt das Wachstum von Gras, das der Atmosphäre Kohlendioxid entzieht und es in den Boden zurückführt.»

Ein junger und ein älterer Mann sitzen an einem Seeufer, der jümgere hat einen langen Stock in der Hand.
Vater und Sohn: Sergei und Nikita Zimov Foto: Katie Orlinsky

Aus Wäldern werden wieder Wiesen und Weiden

Die Tiere, allesamt Pflanzenfresser, würden zudem dafür sorgen, Sträucher und Bäume kleinzuhalten. Bisons etwa reiben sich mit ihren muskulösen Schultern an den Stämmen, bis diese ihre Rinde verlieren und schutzlos eingehen. Außerdem beschleunigen die Weidetiere den Biokreislauf der Gräser, indem sie die Böden düngen und damit fruchtbarer machen. So werden aus den Niederwäldern wieder Wiesen, die wegen ihrer helleren Farbe das Sonnenlicht stärker als Wälder und Sträucher reflektieren und so die Klimaerwärmung abmildern können.

Ein weiterer Effekt der umherziehenden Großtierherden: Indem sie im Winter den Schnee zertrampeln, verringern sie seine Wirkung als Isolierschicht, der Frost kann so besser in den Boden dringen. «Und das bewahrt den Permafrost davor, aufzutauen», erläutert Nikita Zimov.

Eine Forschungsstation am Ende der Welt

Einen Großteil des Jahres verbringt Nikita Zimov mit seinem Vater in der Forschungsstation am Unterlauf des Flusses Kolyma südlich der Siedlung Tscherski, die Sergei Zimov einst gegründet hat. Das Tiefland im Nordosten der russischen Republik Sacha, auch Jakutien genannt, ist von Wäldern und Wiesen umgeben, die sich wie Tausende Inseln zwischen Seen und Flüssen einfügen. Aus dem Flugzeug zeugt nur die mächtige Satellitenschüssel der Forschungsstation von der Zivilisation. 

Ein Gebäudekomplex mitten im Wald und nahe eines Flusses mit mächtiger Satellitenschüssel auf dem Dach.
Die Forschungsstation der Zimovs im Nordosten Sibiriens an der Kolyma Foto: Katie Orlinsky

Mit seinem Allradmobil holt Nikita Zimov seine Gäste aus Tscherski ab, um ihnen das zu zeigen, was er schützen will: den Permafrostboden. In der Forschungsstation führt eine Holztreppe einige Meter tief hinab. Unten angekommen, geht es die gefrorenen Gänge entlang, im Licht der Taschenlampe leuchten die Eiskristalle bläulich-weiß. Nikita Zimov will, dass das so bleibt. Dieser Aufgabe hat er sein Leben verschrieben – und das, obwohl er einst versucht hatte, dieser Einöde so weit wie möglich zu entfliehen.

Nikita Zimov ist in der Forschungsstation jenseits des Polarkreises aufgewachsen, wo die Sonne an den Tagen der Sonnenwende gerade nicht mehr auf- oder untergeht. Als junger Mann ging Nikita nach Nowosibirsk, studierte an der Universität Mathematik und Mechanik. Dort lernte er seine Frau kennen und gründete mit ihr eine Familie. Eigentlich hätte er in Westsibirien ein recht komfortables Leben führen können – wenn sein Vater nicht gewesen wäre.

Sergei Zimovs Idee: ein Geistesblitz in schlafloser Nacht

Die Winter seien lang wie eh und je, aber heute eben nicht mehr so kalt, erzählt Sergei Zimov. Der Mann mit dem vom kalten Wind zerfurchten Gesicht, dem Rauschebart und seinem Barett auf dem Kopf berichtet, dass der Boden früher den ganzen Winter lang vereist gewesen sei. Doch Anfang der 1990er-Jahre hätte sich das geändert. Normalerweise würde im November der Boden zufrieren und erst im kurzen Sommer wieder auftauen. «Doch nun friert der Boden nicht mehr ganz zu», so Sergei Zimov, «das zeigt mir, dass der Permafrost in der Tiefe aufgetaut ist.» Dem Geophysiker war sofort klar, was das bedeutet: Der gefrorene Boden enthält Unmengen an Kohlenstoff, die nach dem Auftauen das Klima als massenhaft entweichendes Treibhausgas noch weiter anheizen würden.

Diese immens große, lauernde Gefahr schockierte Zimov zutiefst – und er begann sich zu fragen, wie man das Auftauen verhindern und dafür sorgen könnte, dass der Permafrost weiter vereist bleibt. In einer jener schlaflosen Nächte vor über 25 Jahren hatte Sergei Zimov dann plötzlich einen Geistesblitz – die Idee des «Pleistozän-Parks» war geboren. Er machte sich sofort ans Werk und sammelte in den folgenden Jahren Tausende von Tierknochen längs der Flussufer, um sich ein realistisches Bild von der einstigen Zusammensetzung der lokalen Tierwelt zu verschaffen.

Aus der Idee wird Wirklichkeit

1996 gründete er schließlich ganz in der Nähe seiner Forschungsstation auf 144 Quadratkilometern seinen Pleistozän-Park, schaffte über mehrere Jahre – bisweilen aus Tausenden von Kilometern Entfernung – Elche, Yaks, Schafe, Rentiere, Jakutenpferde, Kalmücken-Rinder und Moschusochsen herbei und ließ sie zunächst auf einer eingezäunten Fläche grasen, um die Bestände und ihre Entwicklung besser kontrollieren zu können.

Schon bald wurde Sergei Zimov klar, dass er das Experiment auf Dauer nicht alleine würde stemmen können. Er brauchte seinen Sohn. Zimov reiste nach Nowosibirsk, um ihn davon zu überzeugen, nach Hause zurückzukehren und das Konzept eines arktischen Ökosystems in die Tat umzusetzen, so wie es einst in weiten Teilen der Erde bestanden hatte: riesige Flächen an Weideland mit Mammuts, Bisons und Wildpferden, Hirschnashörnern und Moschusochsen. Bis der Mensch auftauchte, die Bestände bejagte und es in Sibirien bald nur noch Rentiere und Moschusochsen gab – die schließlich auch ausgerottet wurden.

Ein mächtiges Rind mit braun-weißen, wolliges Fell blickt uns fragend an.
Wo die Kalmücken-Rinder entlangtrampeln, hat sich die Landschaft bereits verändert und gleicht jetzt eher einer Feuchtwiese. Foto: Katie Orlinsky
Blick von oben auf eine mit Wassergräben durchzogenen Graslandschaft
Eingezäuntes Weideland im Pleistozän-Park Foto: Nikita Zimov

Was wir hier machen, ist ein Langzeitexperiment. Jahrzehntelang. Ich denke dabei an meine Urenkel.

Sergei Zimov, Geophysiker, Tscherski

Nikita Zimov kehrte schließlich zu seinem Vater zurück, übernahm die Leitung des Parks und verfolgt heute selbst große Pläne: Mehr als 100 Weidetiere leben mittlerweile in dem Schutzgebiet; einige davon sind schon weitergezogen und besiedeln die umliegende Tundra und Wäldchen weiter. Zimov will künftig auch amerikanische Bisons ansiedeln. Die Wildrinder stammen ursprünglich aus Eurasien und überquerten im Pleistozän die damals existierende Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska.

Tourismus soll zur Finanzierung beitragen

Bisher hat sich Nikita Zimov auf eigenes Geld und Crowdfunding-Kampagnen verlassen, um das Pleistozän-Projekt zu finanzieren. Klima- und Umweltschutz wurden in Russland lange Zeit nicht ernst genommen. Das ändert sich Schritt für Schritt: So ist im Herbst 2019 die russische Regierung dem Pariser Klimaabkommen beigetreten und entwickelt derzeit einen Plan zur Klimaanpassung. Als einer der schädlichsten Konsequenzen wird darin das Auftauen des Permafrostbodens bezeichnet, da dieser Gebäude und Infrastruktur beschädigen könne. Der Staat hat den Zimovs zumindest das Land überschrieben. Um aber die klammen Kassen zu füllen, will Nikita Zimov nun Touristen in das Kolyma-Tiefland locken, um mit den Einnahmen sein Vorhaben auszuweiten.

Wir möchten unsere Lösung der Welt demonstrieren.

Nikita Zimov, Betreiber des Pleistozän-Parks

Dennoch versteht Nikita Zimov den Pleistozän-Park nicht in erster Linie als Touristenattraktion. Auch nicht als Umsiedlungsprojekt für bestimmte Arten. Er will nichts weniger als Geoengineering betreiben: «Mit unserer Initiative wollen wir zeigen», so Zimov, «wie der Tauprozess möglicherweise gestoppt oder zumindest verlangsamt werden kann.»

Ein Mann kommt aus einem vereisten Tunnel  eine steile Treppe herauf.
Kühlschränke ohne Strom: Seit Jahrhunderten stellen in den abgelegenen Gebieten Sibiriens die Eiskeller die Lebensmittelversorgung sicher. Durch das Auftauen des Permafrostbodens werden die Keller nun regelmäßig überflutet. Foto: Katie Orlinsky
Ein junger Mann steht auf einer grünen Wiese, den Blick in die Ferne gerichtet.
Nikita Zimov überblickt die Weite seines Pleistozän-Parks. Foto: Katie Orlinsky

Zuspruch, Zweifel – und internationale Aufmerksamkeit

Alexey Kokorin vom WWF Russland spricht von einer «interessanten Initiative». «Für den Klimaschutz ist es gut, wenn Vegetation und Ökosysteme wiederhergestellt werden, welche die Treibhausgase aktiver absorbieren und Gebiete widerstandsfähiger gegen den Klimawandel machen können», sagt der Leiter des Klima- und Energieprogramms der russischen Umweltorganisation. Wenn mit nachhaltigem Tourismus auch noch die Öffentlichkeit sensibilisiert werden kann, so sei dagegen nichts einzuwenden. Allerdings hat er seine Zweifel, wie lange und in welchem Ausmaß das Projekt Bestand hat, und fragt sich, in welchen anderen Gebieten es ebenfalls Anwendung finden könnte.

Mathias Göckede vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena sieht ein anderes Problem: Noch fehle es an langfristigen Messungen der Bodentemperatur und des Treibhausgas-Ausstoßes im Park, um über den Sinn des Projekts urteilen zu können. Das allerdings möchte er selbst ändern. Seit 2012 besucht er jeden Sommer die Zimovs, um auf ihrem Gelände Kohlenstoffflüsse des tiefen Permafrostbodens zu messen, zuletzt im Sommer 2019.

Aus Sumpflandschaft werden Feuchtwiesen

Vor Ort konnte Göckede feststellen, wie sich der Boden unter den Füßen der Tiere bereits von dem der umliegenden Gebiete unterscheidet. Letztere sind geprägt von einer sumpfigen Oberfläche mit Grasbüscheln, die auf den abgestorbenen Pflanzen des Vorjahres wachsen und somit kleine Erhebungen inmitten des stehenden Wassers bilden. Im Pleistozän-Park dagegen sei eine Feuchtwiese entstanden, auf der das Wasser besser abfließen könne und die Vegetation nicht von Jahr zu Jahr wieder absterbe. «Auf den ersten Blick unterscheidet sie sich nicht groß von einer Feuchtwiese in Europa», sagt Göckede. Er geht davon aus, dass die Temperaturen dort absinken werden, will aber vor einer abschließenden Einschätzung noch die Messergebnisse der nächsten Jahre abwarten.

Schöne hellfarbene Pferde auf grüner Wiese
Auch Gruppen von Wildpferden halten die Vegetation niedrig – und festigen mit ihren Hufen zudem den Boden. Foto: Katie Orlinsky

Ich habe keine Zweifel, dass das Konzept auf kleinem Raum funktioniert.

Mathias Göckede, Geoökologe am Max-Planck-Institut für Biogeochemie, Jena

Angesichts des Riesenaufwands rechnet Göckede nicht damit, dass sich das Konzept des Pleistozän-Parks auf die ganze Arktis ausweiten lässt – zumindest nicht so schnell.

Eines haben Vater und Sohn Zimov jedenfalls erreicht: Die Wissenschaft interessiert sich für ihr Projekt. «In diesem Jahr kamen mehr als 100 Wissenschaftler und Journalisten zur Forschungsstation nach Tscherski», erzählt Nikita Zimov zufrieden – darunter auch Reporter der New York Times, von National Geographic und den CBS News.

Manche von ihnen hat Nikita Zimov mit der Aussage überrascht, dass er sich zwar für den Planeten und auch für die Tiere interessiere. Aber worüber er sich wirklich sorge, seien die Menschen – ganz besonders seine Kinder. Die leben die meiste Zeit des Jahres getrennt von ihm in Nowosibirsk, wo sie die Schule besuchen. Nur im Sommer würden sie zu ihm kommen, dorthin, wo dereinst das Ökosystem einer längst vergangenen geologischen Epoche wieder zurückkehren könnte.

 

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13. Dezember 2019 | Energiewende-Magazin