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Zu viel für die Tonne

Ein Bericht von Ralf Stork

Ein Drittel aller Lebensmittel in Deutschland wird weggeworfen – was indirekt auch den Hunger im Globalen Süden vergrößert. Was muss hier geschehen?

Wenn es um Lebensmittel geht, könnte unsere Versorgungslage eigentlich kaum besser sein, denn wer das nötige Geld hat, kann sich hierzulande rund um die Uhr mit Essen eindecken: 37.000 Lebensmittelgeschäfte verteilen sich in einem so dichten Netz über Deutschland, dass der Weg zum nächsten Supermarkt selten länger als fünf Minuten dauert. Dort hat man dann die Qual der Wahl zwischen mehreren Tausend Produkten – von exotischen Früchten über Eier, Fleisch und Kartoffeln bis hin zu Chips, Schokolade und Gummibärchen. Sind die Geschäfte geschlossen, bleiben immer noch die Restaurants, Bäckereien, Imbisse, Kioske und Tankstellen. Die allerwichtigste Versorgungsstation befindet sich ohnehin in den eigenen vier Wänden: In bemerkenswerten 99,9 Prozent aller Haushalte steht ein Kühlschrank, der die Vorräte schön frisch hält. Und sollte in dem mal gähnende Leere herrschen, gibt es immer noch eine größere oder kleinere Vorratskammer oder ein Fach, worin man Essbares findet.

Lebensmittelverluste und Lebensmittelschwund

Doch dieser Luxus hat seinen Preis. Wo immer und überall Nahrung bereitgestellt werden muss, bleibt fast zwangsläufig auch eine große Menge davon auf der Strecke: Weltweit landet ein Drittel aller Lebensmittel im Müll. Im Globalen Süden geschieht das vor allem durch Lebensmittelverluste, also Verluste, die kurz nach der Ernte oder bei mangelhafter Lagerung auftreten. In Deutschland und anderen wohlhabenden Staaten ist dagegen Lebensmittelverschwendung das Hauptproblem. Damit ist der Schwund gemeint, der entlang der Wertschöpfungskette – bei Handel, Gastronomie und in Privathaushalten – entsteht. In Deutschland sind es beachtliche knapp elf Millionen Tonnen an Lebensmitteln, die auf diesem Weg verloren gehen. Das meiste davon häuft sich in den privaten Haushalten an. Übrig gebliebene Nudeln, vergammeltes Obst und Gemüse, ein alter Kanten Brot, ein angefangener Joghurt, der im Becher vor sich hinschimmelt … dies alles summiert sich auf ganze 78 Kilogramm pro Person und Jahr.

Hinzu kommt: Die Ökobilanz dieser ungenutzten Lebensmittel ist verheerend. Für Obst und Gemüse werden schließlich Anbauflächen, Wasser und Dünger benötigt, bei tierischen Produkten ist der Ressourcenverbrauch gleich um ein Vielfaches höher. Und dann werden die Lebensmittel zum Teil um die halbe Welt transportiert, müssen gekühlt und gelagert werden. Sehr viel Flächen- und Energieverbrauch für Produkte, die ungenutzt im Müll landen – und zudem ein Haufen klimaschädlicher Gase.

Eine Grafik zeigt die Atmosphärenschichten der Erde.

Die Ernährung der Menschheit verursacht mehr als ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen 

Rund 12 Prozent fallen hierbei als direkte Emissionen an, beispielsweise bei der Rinderzucht und dem Reisanbau, wo große Mengen Methan freigesetzt werden. 12 Prozent werden indirekt freigesetzt, etwa durch die Rodung von Wäldern oder die Umwandlung natürlicher Lebensräume in landwirtschaftliche Flächen. Hinzu kommen Emissionen aus nachgelagerten Prozessen wie Verarbeitung, Transport und Kühlung, die für weitere 13 Prozent verantwortlich sind. 

Verschwendung von Essen 

«Deutschland könnte jährlich 38 Millionen Tonnen Treibhausgase einsparen, wenn die unnötige Lebensmittelverschwendung nur um 50 Prozent reduziert würde», rechnet Silke Oppermann, Referentin für Nachhaltige Ernährung und Klimaschutz bei der Umweltschutzorganisation WWF Deutschland, vor. Das entspräche mehr als fünf Prozent der hierzulande jährlich anfallenden Treibhausgase. Dabei gebe es zahlreiche Möglichkeiten, die Abfallmengen zu minimieren: Wenn in Restaurants regelmäßig die Hälfte des Essens auf dem Teller liegen bleibt, sind vermutlich die Portionen zu groß. Gleiches gilt für die Reste von Büfetts. Und im Einzelhandel landen regelmäßig in Netzen verpackte Orangen oder Plastikschalen mit Kiwis, Tomaten oder Paprika im Müll, bloß weil eine einzelne Frucht schimmlig geworden ist.

Wie groß das Problem im Detail ist, bleibt dabei weitgehend im Dunkeln. «Bislang gibt es keine Verpflichtung für Unternehmen, die Menge der Lebensmittelabfälle überhaupt zu erheben – und zu reduzieren», sagt Oppermann. «Dabei bräuchten wir dringend eine valide Datengrundlage und einen Standard, nach dem in regelmäßigen Abständen die Abfallmengen erfasst werden.» 

Die Politik reagiert zögerlich – wenn überhaupt

Auch von der Politik in Deutschland wird das Problem noch nicht wirklich angegangen: Die Bundesregierung hat sich zwar verpflichtet, auf Grundlage der EU-Abfallrahmenrichtlinie von 2008 die Lebensmittelverschwendung bis 2025 um 30 Prozent zu reduzieren, bis 2030 sogar um 50 Prozent. Doch solange es keine vernünftige ­Datengrundlage gibt, ist es eben schlicht unmöglich, abzuschätzen, ob dieses Ziel erreicht wird oder ob wenigstens die Marschrichtung stimmt. Im September 2021 hatte der Bundesrat zwar eine gesetzliche Verpflichtung zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen gefordert, bislang hat die Bundesregierung diese Initiative aber weder aufgenommen noch weitergetrieben.

Mit dem Fokus auf Privathaushalte macht es sich die Politik zu einfach.

Silke Oppermann, Referentin für Nachhaltige Ernährung und Klimaschutz beim WWF Deutschland
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10,9 Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle wurden in Deutschland 2020 weggeworfen oder vernichtet. Quelle: Statistisches Bundesamt

Auch der grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir hat beim Kampf gegen die Verschwendung noch keine entscheidenden Impulse gesetzt. Zum «International Day of Awareness of Food Loss and Waste», der seit 2019 jedes Jahr am 29. September begangen wird, veranstaltete sein Bundeslandwirtschaftsministerium eine Aktionswoche – unter anderem bekam man Tipps, wie sich aus Resten noch leckere Gerichte kochen ließen oder wie mit einem durchdachten Einkauf Lebensmittelverschwendung minimiert werden könne. «Das ist auch ein wichtiger Beitrag. Die Politik macht es sich aber zu einfach, wenn sie den Fokus auf die Privathaushalte legt und sich selbst und sämtliche Akteure entlang der Wertschöpfungskette aus der Verantwortung entlässt», sagt Silke Oppermann.

Andere Länder sind da schon deutlich weiter. In Frankreich zum Beispiel ist es für Lebensmittelgeschäfte ab einer Größe von 400 Quadratmetern rechtlich verboten, Lebensmittel wegzuwerfen. Auch die Vereinten Nationen haben das Problem adressiert: Unter anderem fordert die Weltorganisation die Mitgliedsländer dazu auf, Lebensmittelverschwendung und -verluste in den nationalen Klimastrategien zu berücksichtigen und genaue Daten über die Lebensmittelverschwendung zu erheben. Verbindliche Vorgaben, bis wann die Ziele umgesetzt sein sollen, fehlen allerdings.

Die Tafeln – Ehrenamt stößt an seine Grenzen

Weil die Politik eher zurückhaltend agiert, wird der Kampf gegen die Verschwendung vor allem von privaten Initiativen getragen: 1993 wurde in Berlin die erste «Tafel» in Deutschland gegründet. Aus der lokalen Hilfe für Obdachlose entwickelte sich schnell eine landesweite Bewegung. Heute verteilen rund 960 Tafeln und 60.000 freiwillige Helferinnen und Helfer Lebensmittel, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr verkauft werden können, an mittlerweile mehr als zwei Millionen bedürftige Menschen. Rund 265.000 Tonnen Lebensmittel werden so Jahr für Jahr von den Tafeln gerettet. Mit den stark gestiegenen Lebenshaltungskosten und bis zu einer Million Geflüchteter aus der Ukraine ist der Ansturm auf die Tafeln deutlich gewachsen. Viele Ortsgruppen berichten, dass der Andrang innerhalb eines Jahres um mindestens 50 Prozent zugenommen hat. Bei 15 Prozent der Gruppen verdoppelte sich die Zahl der Bedürftigen sogar. Das führt häufig zu chronisch überlasteten ehrenamtlich Aktiven, knappen Kassen und letztendlich dazu, dass weniger Lebensmittel vor der Verschwendung gerettet werden, als es eigentlich möglich wäre. 

 

Zwei junge Frauen in roten Schürzen und mit hochgesteckten Haaren befüllen Papiertüten mit Lebensmitteln.
Freiwillige der Tafel Potsdam befüllen Essenstüten für Bedürftige – 
deutschlandweit rettet die Organisation so jährlich Zehntausende Tonnen an Lebensmitteln. Foto: Jens Kalaene / picture alliance

Wir brauchen jede Unterstützung!

Pascal Kutzner, Stellvertretender Pressesprecher des Vereins Tafel Deutschland

«Wegen des großen Andrangs arbeiten unsere Helferinnen und Helfer am Limit und haben oftmals keine personellen oder finanziellen Kapazitäten mehr, Lebensmittelspenden abzuholen», sagt Pascal Kutzner von der Tafel Deutschland e. V. «Wer etwas gegen die Lebensmittelverschwendung in Deutschland tun will, kann gerne bei der örtlichen Tafel nachfragen, was am nötigsten gebraucht wird. Helfen ist oft einfacher als gedacht», so Kutzner. Und Hilfe ist gefragter denn je: 82 Prozent der Tafeln mussten bereits einen Aufnahmestopp für neue Bedürftige verhängen; 60 Prozent der ehrenamtlich Tätigen stehen derzeit kurz davor, ihr Ehrenamt aufgrund starker psychischer Belastung aufzugeben.

Das Beispiel der Tafeln verdeutlicht einen wichtigen Punkt im Zusammenhang mit Lebensmitteln: Obwohl es so viele Supermärkte und Discounter gibt, die sich gegenseitig mit Angeboten übertrumpfen, und obwohl das Angebot an Lebensmitteln so groß ist, dass am Ende ein Drittel weggeworfen werden muss, haben längst nicht alle Zugang zu diesem Überfluss. Selbst in Deutschland sind Millionen Menschen auf Lebensmittelspenden angewiesen.

Chronischer Hunger – erneut ein Problem

In drastisch verschärfter Form gilt das auch auf globaler Ebene: «Obwohl die weltweit produzierte Nahrung für acht Milliarden Menschen reichen würde, leiden bis zu 828 Millionen Menschen auf der Welt unter chronischem Hunger», sagt Anne-Catrin Hummel von der Welthungerhilfe. Die private Hilfsorganisation, deren Projekte unter anderem vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, der EU-Kommission und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unterstützt werden, gibt jährlich den «Welthunger-Index» heraus. Untersucht werden die Bereiche Unterernährung, Kindersterblichkeit, Auszehrung und Wachstumsverzögerung bei Kindern. Besonders groß ist das Problem in Afrika südlich der Sahara und in Südasien. Nach vielen Jahren des Rückgangs oder der Stagnation steigt die Zahl der unterernährten Menschen seit 2016 wieder stark an. «Gründe dafür sind unter anderem die weltweit hohen Lebensmittelkosten, die Auswirkungen der Coronapandemie, der Klimawandel, die steigende Zahl bewaffneter Konflikte und der Ukraine-Krieg», sagt Hummel.

Eine junge Mutter schwarzer Hautfarbe hockt vor Schüsseln, die sparsam mit Körnern gefüllt sind.
Hunger in der Welt

Nach dem regelmäßig von der Welthungerhilfe erhobenen «Welt­hunger-Index» steigt nach einer längeren Phase des Rückgangs die Zahl der Hungernden weltweit seit Kurzem wieder stark an. 2021 waren bis zu 828 Millionen Menschen unterernährt. 2015 lag die Zahl im Vergleich dazu bei circa 650 Millionen Menschen. 

Mehr als 35 Prozent der Bevölkerung folgender Länder leiden nach den Daten des Welternährungsprogramms der UN chronischen Hunger: Madagaskar, Somalia, Jemen, Irak, Zentralafrikanische Republik, beide Kongo-Republiken, Liberia, Haiti und Nordkorea.

Gründe dafür sind unter anderem gewalttätige Konflikte, die Coronapandemie und im Klimawandel sich häufende Extremwetterereignisse. Durch den Ukraine-Krieg in Verbindung mit steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen wird sich das Problem in den kommenden Jahren noch weiter verschärfen.

Foto: Vertriebene in einem Flüchtlingscamp in Südsudan. Roland Brockmann / Welthungerhilfe

Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen unserer Lebensmittelverschwendung und dem Hunger auf der Welt gibt es zwar nicht, denn die Menschen, die Hunger leiden, werden ja nicht dadurch satt, dass wir weniger wegwerfen. Und die hier geretteten Lebensmittel können auch nicht einfach überall dort in der Welt verteilt werden, wo sie fehlen. Dennoch ist der Faden, der von der hiesigen Verschwendung zum Hunger im Süden führt, ziemlich kurz – und ziemlich rot.

Ein junger Mann mit Haarnetz verteilt Essen aus zwei großen Töpfen an Kinder, die in einer Schlange anstehen.
Kinder an einer Essens­ausgabe in Neu-Delhi: Allein in Indien leiden rund 200 Millionen Menschen an Hunger – weltweit fehlt es über 800 Millionen Menschen an ausreichend Nahrung. Foto: Abhishek Kumar / Alamy Stock

Der soziale Fußabdruck unserer Verschwendung

Viele der Lebensmittel, die bei uns im Müll landen, kommen aus Ländern, in denen auch Menschen hungern: Avocados aus Peru, Mangos aus Indien oder Pakistan, Palmöl aus Indonesien. Wenn diese bei uns weggeworfen werden, haben sie in ihren Ursprungsländern und auf dem Weg zu uns bereits einen großen ökologischen Fußabdruck hinterlassen. Häufig kaufen westliche Unternehmen im großen Stil Land im Globalen Süden auf und lassen dort begehrte Exportware anbauen. Für die lokale Bevölkerung bleibt so nicht mehr genügend Anbaufläche übrig, um sich selbst ausreichend versorgen zu können. Zudem lebt die Mehrheit der unterernährten Menschen auf dem Land, also dort, wo Nahrung angebaut wird. Wenn die Flächen gerecht verteilt wären (und die Regionen nicht gerade von einer Dürre, einer Flut oder einem bewaffneten Konflikt heimgesucht werden), müsste die Bevölkerung eigentlich nicht hungern.

Dazu kommt, dass in den Ländern und Regionen, in denen ein Teil der Bevölkerung Hunger leidet, ebenfalls viele Lebensmittel verloren gehen. Und das nicht, weil sie am Ende der Verwertungskette im Müll landen. Sie verderben, weil sie nicht richtig geerntet, gelagert, vermarktet oder weiterverarbeitet werden können.

Warum Nigeria Tomaten importieren muss

Nigeria ist einer der größten Tomatenproduzenten der Welt. Die Früchte werden auf einer Fläche von knapp 700.000 Hektar angebaut und gehören zu den absoluten Grundnahrungsmitteln im Land. Und dennoch muss Nigeria Tomaten importieren: Von der heimischen Produktion gehen ganze 76 Prozent verloren. Die Hauptursache ist die fehlende Infrastruktur zur Weiterverarbeitung der Tomaten vor Ort. Viele der frischen Tomaten verderben, weil das Angebot zur Erntezeit die Nachfrage bei Weitem übersteigt, wenn die Früchte alle gleichzeitig reif werden und nicht weiterverarbeitet werden können. Tomaten, die in Dosen abgefüllt oder zu Ketchup und Tomatenmark verarbeitet würden, wären dagegen mehrere Jahre haltbar. Mit Investitionen in die lokale Infrastruktur – zum Beispiel in Weiterverarbeitungsbetriebe – könnten die Nahrungsmittelverluste also deutlich reduziert werden. Auch beim Anbau von Mais und der Zucht von Welsen – beides dort ebenfalls wichtige Lebensmittel zur Grundversorgung – sind die Nahrungsverluste mit 25 beziehungsweise 34 Prozent immens. Eine Verringerung der Verluste würde bereits einen großen Beitrag leisten, um den Hunger in der Region aktiv zu bekämpfen. «Eine unserer Grundforderungen lautet daher, umgehend in die ländliche Entwicklung der betroffenen Länder zu investieren und dort gezielt kleinbäuerliche Familien zu unterstützen. Das ist ein wichtiger Hebel zur Überwindung von Hunger und Armut», sagt Anne-Catrin Hummel.

Auf einem weitläufigen Markt tummeln sich unzählige Menschen zwischen Körben voller Tomaten.
Tomatenmarkt in Lagos: Obwohl Nigeria selbst zu den größten Tomatenproduzenten der Welt gehört, ist es zusätzlich auf deren Import angewiesen, denn aufgrund fehlender Infrastruktur gehen jährlich rund drei Viertel der heimischen Ernte verloren. Foto: Majority World CIC / Alamy Stock
Auf einem Feld unter freiem Himmel haben Händler Tomaten und Paprika zu zahlreichen Haufen aufgeschichtet.
Ein Markt für getrocknete Tomaten und Paprika nahe der nigerianischen Stadt Hunkuyi im Zentrum des Landes Foto: Fatima Bukar

Subventionen und faire Entlohnung könnten viel bewegen  

Es gibt zahlreiche weitere Maßnahmen, mit denen die Verluste direkt bei der Ernte und danach verringert werden können: Werden Mangos bei der Ernte zum Beispiel mit Scheren vom Stil getrennt und nicht mit der Hand abgerissen, gibt es weniger Druckstellen und in der Folge weniger faulende Früchte. Werden die Früchte in passenden Körben sowie möglichst kühl und dunkel gelagert, gehen die Verluste weiter zurück. Auch bei Getreide spielt die Lagerung eine enorme Rolle. Denn werden die Körner feucht, kann Schimmel die gesamte Ernte zerstören. Luft- und wasserdichte Tonnen beziehungsweise Silos aus Plastik oder Metall – vom Staat oder von Hilfsorganisationen subventioniert – könnten da Abhilfe schaffen und zugleich Schutz vor Schädlingen bieten. Besonders für bäuerliche Betriebe, die sich eine sichere Lagerung der Ernte allein nicht leisten können, wären derlei Lagermöglichkeiten eine unschätzbare Hilfe.

Und auch bei den genannten Tomaten gibt es ­weitere Möglichkeiten, die großen Verluste zu minimieren. Bei groben Erntemethoden bekommen die Früchte leicht Druckstellen. Setzt man zu große Sammelbehälter ein, werden die untersten Früchte durch den Druck beschädigt.

Manche Lösungen klingen allerdings in der Theorie einfacher, als sie tatsächlich umzusetzen sind: Dass rabiate Erntemethoden ganz allgemein empfindlichen Früchten nicht guttun, liegt natürlich auf der Hand. Und die Lösung eigentlich auch: Einfach etwas achtsamer sein. Wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter nun aber keinen pauschalen Stundenlohn erhalten, sondern nach Erntemenge bezahlt werden, ist es für sie naheliegend, in kurzer Zeit so viel wie möglich zu ernten – und dafür auch höhere Verluste in Kauf zu nehmen.

Mindeststandards für Fairness genügen nicht

Um an dieser Stelle die Ernteverluste zu verringern, müsste sich also das gesamte System der Arbeitsorganisation und Entlohnung von Grund auf ändern, was dann doch ein bisschen komplizierter ist. Aber auch dafür gibt es Lösungsansätze: Das etablierte «Fairtrade»-Siegel beispielsweise, das einen Mindeststandard für die Bezahlung der Arbeit vor Ort garantiert. Und mit dem «Food ­Security Standard» (FSS) entwickeln Welthungerhilfe und der WWF gerade ein Siegel, das sicherstellen soll, dass die Menschen, die Agrarrohstoffe für den Weltmarkt anbauen und ernten, selbst genügend zu essen haben. Doch bis sich der neu geschaffene Standard in der Praxis etabliert, ist es wohl noch ein weiter Weg.

Ein großer Haufen weggeworfener Teigwaren: zwischen Brotlaiben liegen Brötchen in allen gängigen Varianten.
Nach Angaben des WWF gehören Backwaren in Deutschland zu den am häufigsten weggeworfenen Lebensmitteln: Anstatt auf dem Teller landeten 2015 rund 1,7 Millionen Tonnen davon in Tierfutter, in der Biogas- oder gar in der Müllverbrennungsanlage. Foto: Countrypixel / Adobe Stock
Ein bunter Haufen Obst und Gemüse: während einiges bereits schimmelt, scheint vieles noch genießbar zu sein.
Auch Obst und Gemüse wird hierzulande in rauen Mengen weggeworfen – laut Umweltbundesamt macht das gut 35 Prozent der Lebensmittelabfälle aus. Ein Großteil gelangt noch nicht einmal in den Handel. Foto: Stock Cube / Adobe Stock
Gemüse in ungewohnter Form: krumme Gurken, mehrbeinige Karotten und eine dellige Paprikaschote.
Schuld daran sind unsere Kaufgewohnheiten: Krumm gewachsenes Gemüse oder von der Norm abweichendes Obst kommt bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht gut an und wird daher häufig aussortiert. Foto: Adobe Stock

Dabei drängt die Zeit. In Zukunft müssen Lösungen für das Problempaar Lebensmittelverschwendung und Lebensmittelverluste stark an Bedeutung gewinnen – schließlich wird die Bevölkerung bis zur Jahrhundertmitte von acht auf zehn Milliarden Menschen anwachsen. Gleichzeitig wird der Klimawandel mit Extremwettern und steigenden Temperaturen die Landwirtschaft in vielen Regionen erschweren oder gar unmöglich machen. Umso wichtiger ist es, die verbleibenden Anbauflächen so effizient und nachhaltig zu nutzen, wie es nur geht, und dafür zu sorgen, dass deutlich weniger Lebensmittel beim langen Weg auf unsere Teller verloren gehen.

Wir benötigen dringend eine größere Lobby, um verbindliche Rahmenbedingungen zu schaffen.

Anne-Catrin Hummel, Referentin der Abteilung Politik- und Außenbeziehungen bei der Welthungerhilfe

Doch wo können wir persönlich ansetzen? Natürlich schadet es nicht, zu Hause einige Tipps gegen Lebensmittelverschwendung (wie beispielsweise hier) zu beherzigen, was ja nicht zuletzt auch der Haushaltskasse zugutekommt. Aber genauso, wie das Klima nicht gerettet wird, wenn in allen Privathaushalten die Standby-Geräte ausgeschaltet werden, lässt sich die Ernährungskrise nicht bloß dadurch bewältigen, dass Menschen hier nicht hungrig einkaufen gehen oder Lebensmittelreste besser verwerten. Schlussendlich kommt es auf alle Akteure entlang der Wertschöpfungskette an. Die Politik trägt dabei die Verantwortung, für entsprechende Regeln und Rahmenbedingungen zu sorgen – auf nationaler wie globaler Ebene. «Dafür braucht das Thema dringend eine größere Lobby. Wer also als Einzelperson etwas gegen Lebensmittelverschwendung tun möchte, macht am besten Druck bei den Parteien und unterstützt die Hilfsorganisationen und NGOs, die das Thema behandeln», sagt Anne-Catrin Hummel von der Welthungerhilfe. «Und wenn man außerdem noch den abgelaufenen Joghurt isst und bewusst einkaufen geht – umso besser!»

 

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18. Januar 2023 | Energiewende-Magazin