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Fragen retten Leben

Die Epidemiologin Debarati Guha-Sapir im Gespräch mit Anne Backhaus

Die richtigen Fragestellungen helfen, Menschen vor den Risiken der Klimakrise zu schützen, meint Debarati Guha-Sapir, die so zu erstaunlichen Antworten kam.

Wenn in den Medien über Erdbeben, eine Flut oder eine extreme Hitzewelle berichtet wird, geht es fast immer um dieselben Fragen: Wie viele Tote forderte die Katastrophe? Und wie kann den Überlebenden geholfen werden? Die Epidemiologin Debarati Guha-Sapir stellt jedoch viel grundsätzlichere Fragen: Was haben die Opfer gemein? Was unterscheidet sie? Aus welchen Gründen sind manche Menschen gestorben und andere nicht? Ein Vorgehen, das sie als «extrem aufwendig» bezeichnet – das aber Millionen Menschenleben retten kann.

Guha-Sapir ist eine von wenigen, die Naturkatastrophen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Menschen wissenschaftlich untersuchen. Das tut sie, um die Ursachen der Todesfälle zu verstehen – und um mit dem erlangten Verständnis weitere Opfer in der Zukunft zu verhindern. Seit beinahe vier Jahrzehnten verfolgt sie diesen Ansatz bereits.

1985 reiste Guha-Sapir mit der Hilfsorganisation «Ärzte ohne Grenzen» erstmals in eine von Dürre heimgesuchte Region der Republik Tschad, um eine Studie zu Hunger-Frühwarnindikatoren für schwere Unterernährung durchzuführen. Der jungen Wissenschaftlerin wurde damals klar, was sie seitdem zu ändern versucht. «Es reicht nicht, nur die Folgen einer Katastrophe zu erfassen oder zu bekämpfen. Wir müssen verstehen, in welcher Form sie jeden einzelnen Menschen betreffen.»

Debarati Guha-Sapir, die zu Beginn ihrer Karriere häufig scherzhaft «Madame catastrophe» genannt wurde, arbeitet heute eng mit der Weltgesundheitsorganisation, dem UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) und Hilfsorganisationen in vielen Regionen der Welt zusammen. Neben der Feldforschung ist ihr auch besonders das Sammeln und Teilen von Informationen wichtig. Dafür gründete sie «EM-DAT», eine internationale Referenzdatenbank für Naturkatastrophen. 

Für das Videogespräch mit dem Energiewende-Magazin erreichen wir Guha-Sapir in ihrem Wohnzimmer in Brüssel. Mit warmer Stimme und großem Engagement erklärt sie uns, wie mittels Informationen von Menschen in Krisenregionen Frühwarnsysteme und Schutzmaßnahmen entwickelt werden können. Ein Ansatz, der auch mit der weltweiten Zunahme an klimabedingten Katastrophen wichtiger denn je geworden ist.

 

Frau Guha-Sapir, Sie untersuchen Naturkatastrophen. Was genau ist dabei für Sie interessant?

Die Auswirkungen einer Katastrophe auf bestimmte Menschengruppen. Denn diese Auswirkungen sind nicht zufällig, sondern folgen bestimmten Regeln, die wir in vielen Fällen noch nicht genau genug kennen. Nicht jeder Mensch hat zum Beispiel dieselbe Wahrscheinlichkeit zu sterben. Ganz im Gegenteil: Von all den Personen, die einer Flut ausgesetzt sind, befinden sich nur einige wirklich in Lebensgefahr, andere hingegen nicht. Ich sammle also Informationen und werte sie aus. Je mehr Informationen wir aus betroffenen Gebieten zusammentragen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, in Zukunft Menschenleben retten zu können. Wir stellen daher die unterschiedlichsten Fragen: Wie ist die Alters- und Geschlechterverteilung? Wer ist am schlimmsten betroffen und warum? Diese Fragen sind wichtiger als je zuvor – denn der Klimawandel hat in den vergangenen 20 Jahren fast zu einer Verdopplung der Naturkatastrophen geführt. 

 

Frau Guha-Sapir sitzt vor einem schweren Bücherschrank und spricht gestikulierend.
Fototermin mit der Epidemiologin Debarati Guha-Sapir in der Bibliothek der Universität Brüssel Foto: Annette Etges

 

Wie genau können Menschenleben mithilfe von Fragen gerettet werden?

Denken wir mal an das Coronavirus. Um es zu bekämpfen, ist es wichtig zu wissen, wie es übertragen wird. Dafür stellen wir grundlegende Fragen. In einem Klassenzimmer sind zum Beispiel 20 Schülerinnen und Schüler, und eine Person hat Corona. An diesem Schultag steckt sie zehn andere an. Die Fragen lauten also: Warum diese zehn? Warum nicht die anderen? Was unterscheidet sie? Das ist klassische Epidemiologie. Ein Professor, mit dem ich die Auswirkungen des Erdbebens 1988 in Nepal erforscht habe, sagte zu mir: «Debby, du musst dir das Beben als Virus vorstellen. Als eine Art Virusbombe, die diese Stadt zerstört hat.» Warum hat er das gesagt? Weil wir uns bei einem Erdbeben – wie auch bei einer Virus­epidemie – grundlegende Fragen stellen sollten. Wie zum Beispiel: Warum ist nur ein Teil der Menschen betroffen? Unsere Studie war wegweisend. Sie hat mich begeistert und bis heute geprägt, weil ich zum ersten Mal diese Art von Fragen gestellt habe und durch die Auswertung der Antworten zu essenziellen Erkenntnissen gelangt bin.

Um welche Art von Erkenntnissen handelte es sich?

Wir haben beispielsweise festgestellt, dass es viele Todesfälle bei Männern im Alter von 18 bis 24 Jahren gab. Das überraschte uns zunächst – denn diese Altersgruppe hat normalerweise die niedrigste Sterblichkeitsrate. Dann fragten wir uns jedoch, welche Gemeinsamkeit dazu führte, dass die Todesrate unter ihnen so hoch war, und wir fanden heraus: Diese jungen Männer waren Studenten und lebten allein, ohne Familie oder Freunde, die sie hätten wecken und vor dem Beben warnen können. Es war schlicht niemand da, der sie vermisst und gesucht hat, der sie innerhalb der ersten sechs Stunden aus dem Schutt hätte ziehen können – nach sechs Stunden gibt es normalerweise kaum noch Überlebenschancen. Hilfe von außen kommt da oft zu spät. Ein Erdbeben zu überleben hängt also stark vom sozialen Umfeld ab. So haben wir mit dieser simplen Fragestellung eine Hoch­risikogruppe in einem Erdbebengebiet identifiziert. Natürlich gibt es noch andere Gruppen. Sie alle müssen erfasst und Präventionsmaßnahmen entwickelt werden – wie zum Beispiel auf die Bevölkerung und ihre Lebenssituation abgestimmte Frühwarnsysteme. Damit kann verhindert werden, dass bestimmte Menschen beim nächsten Erdbeben sozusagen automatisch in Lebensgefahr sind.

Wie können weitere Präventionsmaßnahmen aussehen?

Leider gibt es nicht das eine Modell, das sich auf alle Länder anwenden lässt. Bei einem Erdbeben in Nepal finden Sie vollkommen andere Risikogruppen als bei einer Flut in Deutschland. Wir können aber durchaus aus allen Arten von Katastrophen lernen. Von solchen, die der Klimawandel verursacht, ebenso wie von Pandemien und Naturkatastrophen: Weil sie uns alle etwas über bestimmte Risikogruppen erzählen. Gleichartige Gruppen lassen sich dann wiederum auch in anderen Regionen finden. Oft entdecken wir bei unseren Untersuchungen auch überraschende Faktoren, die wir nie vermutet hätten. Bei dem Tsunami, der 2004 in Tamil Nadu, einem südindischen Bundesstaat, Tausende Menschenleben gekostet hat, sind zum Beispiel vor allem Fischer gestorben. Und zwar, weil sie schwimmen konnten.

Ausgerechnet die Schwimmer kamen in den Wassermassen um?

Genau. Stellen Sie sich einen Fischer vor, der einen Großteil seines Lebens auf dem Wasser verbringt. Was tut er, wenn das Meer das Land überspült? Er flieht nicht. Er rettet seine Frau und seine Kinder. Er rettet seinen Freund oder seine Nachbarin. Er kann ja schwimmen, also fühlt er sich verantwortlich. Viele solcher Männer sind bei der Rettung anderer Menschen umgekommen. Wir haben der Regierung von Tamil Nadu also empfohlen, die Fischer, die schwimmen können, in Wasserrettung zu trainieren. Auch damit sie Gefahren besser einschätzen und sich im Notfall selbst in Sicherheit bringen können. Das ist jetzt nur einer von vielen Aspekten aus meinen Studien – der aber sehr gut verdeutlicht, wie ein einfaches Bildungsangebot langfristig Hilfe gewährleisten und Risikofaktoren minimieren kann. 

In einer vollkommen verwüsteten Landschaft mit umgestürzten und abgeknickten Palmen steht ein halb zerstörtes kleines Haus.
Extreme Wetterereignisse nehmen klimabedingt stark zu: Auf der philippinischen Insel Cebu tobte im November 2013 der Taifun «Haiyan», einer der stärksten tropischen Wirbelstürme seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Foto: imagegallery2 / Alamy Stock
Eine Anzeigetafel vor sonnenbeschienenen Gebäuden zeigt 48 Grad Celsius an.
Hitzewelle in Griechenland: In der Stadt Mykene auf der griechischen Halbinsel Peloponnes kletterten die Temperaturen am 3. August 2021 auf bis zu 48 Grad Celsius. Foto: Vasilis Papadopoulos / picture alliance
Auf dem dürren Grund eines ausgetrockneten Sees steht ein hölzernes Fischerboot.
In weiten Teilen trockengefallen: der Ukhanda-See im indischen Bundesstaat Maharashtra. Foto: Ritesh Uttamchandani
Luftbild von dem zerstörten Ort, den Trümmern einer alten Steinbrücke und den bereits installierten Behelfsbrücken.
Auch in Mitteleuropa werden die Folgen der Klimakrise immer unmittelbarer spürbar, wie 2021 bei der Flutkatastrophe im Westen Deutschlands, in den Niederlanden und in Belgien. Hier der stark zerstörte Ort Rech im Ahrtal. Foto: Rainer Unkel / picture alliance

Sie sprachen es bereits an: Der Klimawandel hat in den vergangenen 20 Jahren fast zu einer Verdopplung der Naturkatastrophen geführt. Oft kosten sie viele Menschenleben. Warum wird nicht häufiger der Fokus auf Schutzmaßnahmen für Menschen gesetzt?

Das ist eine Frage, über die ich viel nachgedacht habe: Wie kommt es, dass es so wenig Interesse an den Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschen gibt? Auf ihre Lebensgrundlagen? Ihre Familien, ihre Häuser, ihre Felder, ihr Vieh? Überschwemmungen, Stürme, Dürre – all das sind extreme Ereignisse, die Leben bedrohen, oft über Generationen hinweg.

Warum tun wir nicht alles, um das zu verhindern? Nun, es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist – nein, ich fange lieber mit der schlechten an, damit wir am Ende unsere Stimmung heben können. Also die schlechte Nachricht: Menschen in vielen Regionen der Erde zu befragen, Daten über Todesfälle zu sammeln und individuelle Lösungen für Katastrophen zu entwickeln, ist extrem aufwendig. Es ist viel einfacher, stratosphärische und meteorologische Daten zu sammeln und auszuwerten. 

Die sind doch hochkomplex?

Natürlich! Die Wissenschaft ist sehr fortgeschritten, es gibt beeindruckende Modelle. Aber: Diese Art von Informationen, also Satellitendaten, Wassermengen, Temperaturanstiege und so weiter, sind im Vergleich zu Daten über Menschen und ihre Lebenssituation eben relativ leicht zu bekommen. Sie benötigen lediglich die Technik und die Experten. Und dann führen die Daten, miteinander kombiniert, zu grandiosen Aussagen über globale Probleme, den gesamten Planeten. Also hören wir, dass uns in 50 Jahren eine weltweite Erwärmung erwartet, die schrecklich sein wird. Und in 100 Jahren wird dieser Landstrich oder jene Insel unter Wasser stehen. Damit bekommt man viel Aufmerksamkeit. Das hilft nur nicht unbedingt. 

Diesen Februar wurde der neue IPCC-Report des Weltklimarats veröffentlicht, nun auch mit einem Schwerpunkt auf den Folgen der globalen Erwärmung für Mensch und Umwelt. Der UN-Generalsekretär António Guterres sagte, der Bericht sei «ein Atlas des menschlichen Leids und eine vernichtende Anklage gegen die verfehlte Klimapolitik». Bedeutet das nicht auch mehr Aufmerksamkeit für Ihren Forschungsschwerpunkt?

Guterres ist ein sehr guter Mann, und er hat viele gute Dinge getan. Also ich möchte nicht, dass es abwertend klingt, was ich jetzt sage. Ich denke nur, wir müssen unsere Rhetorik in Bezug auf den Klimawandel generell abschwächen. Solche Aussagen führen vor allem zu zwei Dingen: Erstens sind sie so erschreckend umfassend, dass Menschen nicht daraus ableiten können, was sie konkret tun sollen. Zweitens demoralisieren und verängstigen sie. Man denkt zwangsläufig, es sei zu spät, es könne gar nichts mehr getan werden.

Muss die Menschheit denn nicht aufgerüttelt werden? Es ist doch verrückt, dass noch immer viel zu wenig gegen den Klimawandel unternommen wird.

Das stimmt. Aber wissen Sie was? In 100 Jahren sind wir alle tot. Und für das, was in 50 Jahren passiert, interessiert sich auch kaum einer der Entscheider. Warum kümmert es sie nicht? Weil sie ihre Macht heute und für die kommenden fünf Jahre erhalten wollen. Warum kümmert es die anderen Menschen nicht? Weil sie sich Sorgen machen, wie sie ihre Kinder in den nächsten fünf Jahren ernähren sollen. Natürlich muss man sagen, dass es schlecht aussieht und wir in große Schwierigkeiten geraten, wenn wir nichts tun. Es ist aber mindestens ebenso wichtig zu sagen: Hier sind die Dinge, die wir tun können. 

Schrift-Bild-Marke des «Disasters Report»
Der «Disasters Report» 2020

Im Oktober 2020 veröffentlichte das «United Nations Office for Disaster Risk Reduction» (UNDRR) den «Human cost of disasters»-Report.

In den vergangenen 20 Jahren (2000–2019) ereigneten sich 7.348 größere Katastrophen. Sie haben sich zum Vergleichszeitraum (1980–1999) fast verdoppelt. Dabei kamen 1,23 Millionen Menschen ums Leben, insgesamt waren 4,2 Milliarden Menschen betroffen. Die finanziellen Schäden beliefen sich auf 2,97 Billionen US-Dollar.

Die tödlichsten Einzelkatastrophen der vergangenen 20 Jahre waren der Tsunami im Indischen Ozean im Jahr 2004 mit 226.400 Toten, gefolgt vom Erdbeben in Haiti im Jahr 2010, bei dem rund 222.000 Menschen starben.

Der starke Anstieg sei größtenteils auf eine Zunahme von klimabedingten Katastrophen zurückzuführen. Die Zahl größerer Überschwemmungen hat mehr als verdoppelt: 3.254 (2000–2019) zu 1.389 (1980–1999). Auch größere Stürme sind deutlich häufiger aufgetreten: 2.034 (2000–2019) gegenüber 1.457. Aus dem Bericht geht zudem hervor, dass seit der Jahrhundertwende 6.681 klimabedingte Katastrophenereignisse registriert worden sind (gegenüber 3.656 zwischen 1980–1999).

«Wir sind mutwillig destruktiv.» (UNDRR-Chefin Mami Mizutori bei der Präsentation der Studie)

Obwohl eine bessere Vorbereitung und Frühwarnsysteme dazu beigetragen haben, die Zahl der Todesopfer bei vielen Naturkatastrophen zu senken, warnt der Bericht, dass immer mehr Menschen von klimabedingten Katastrophen betroffen sind – und sein werden. Das UNDRR fordert die Regierungen auf, mehr für die Prävention von Klimagefahren zu tun und sich besser auf drohende Katastrophen vorzubereiten.

«Letztlich geht es immer um Führung. Die Regierungen müssten ihre Hauptenergie darin investieren, unseren Planeten von der Geißel der Armut, dem weiteren Arten- und Biodiversitätsverlust und den schlimmsten Folgen der globalen Erwärmung zu befreien.» (Prof. Debarati Guha-Sapir, Mitautorin des «Disasters Report» von 2020)

Sie selbst schlagen in der Studie «Human cost of disasters» mehrere Aktionspunkte wie Frühwarnsysteme und auf Gemeinden abgestimmte Lösungen vor. 

Wir brauchen viele verschiedene Maßnahmen, einen Großteil davon auf Gemeindeebene. Wenn wir etwas ändern wollen, muss sozusagen das gesamte Dorf mitziehen – sonst können wir es vergessen. Es ist sinnlos, ein tolles Zyklon-Warnsystem zu haben, wenn die Leute nicht wissen, wie sie darauf reagieren sollen, oder wenn ihnen die finanziellen Möglichkeiten zur Nutzung fehlen. Oder wenn sie den Sturm überleben, aber durch die Folgen umkommen. 

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Ich denke da an Mosambik im Südosten Afrikas. Dort treten häufig Zyklone auf; die Menschen sind daran gewöhnt. Bei meiner Forschung stellte ich fest, dass diese Wirbelstürme nicht nur heftige Überschwemmungen mit sich bringen, sondern auch zu schweren Cholera-Ausbrüchen führen. Es mangelt in den betroffenen Gebieten an sauberem Trinkwasser, außerdem wird die Infrastruktur oft so stark zerstört, dass viele Menschen keine medizinischen Zentren mehr erreichen können. Mir wurde klar: Katastrophenvorsorge in Mosambik ist ohne den Fokus auf Gesundheit nutzlos. Es wäre daher sinnvoll, in jedem Dorf eine angesehene Frau zu finden und ihr Chlortabletten für die Trinkwasserherstellung und einen Vorrat an Cholera-Medizin zu überlassen. So kann sie beim nächsten Zyklon anderen helfen und weitere Todesfälle vermeiden. Ich weiß, das klingt einfach. Oft ist es das aber auch.

Eine Frau mit schwarzer Hautfarbe sitzt mit einer anderen Frau an einem Tisch und zeigt ihr eine Medikamentendose.
Mit einfachen Mitteln, beispielsweise durch einen Vorrat an Medizin in Überschwemmungsgebieten, können Dorfgemeinschaften präventiv geschützt werden. Foto: Jake Lyell  / Alamy Stock

Ihre Beispiele lassen vermuten, dass solche Maßnahmen, also auch Anpassungen an die globale Erwärmung und die daraus resultierenden Katastrophen, nicht unbedingt teuer sein müssen.

Das stimmt – und das ist gut! Gleichzeitig ist es aber auch schlecht, denn man erreicht Regierungen oftmals schwer mit Maßnahmen, die nicht glamourös klingen. Kaum jemand will hören, dass man eigentlich nur einen kleinen Geldbetrag braucht, um zu erforschen, warum Menschen unter einem Wetterextrem gelitten haben. Dass es nur wenig Geld, aber etwas mehr Mühe kostet, in Zukunft Menschenleben zu retten. Sie können sich dafür nicht so gut feiern lassen wie für einen Millionenbetrag, der sie sofort als Helden dastehen lässt. 

Frustriert Sie das?

Ich bin kein frustrierter Mensch, aber ja, es ist ein Kampf. Das gilt natürlich auch für meine wissenschaftlichen Kollegen, die zum Beispiel Klimadaten sammeln und uns immer wieder warnen. Warum verpuffen diese Warnungen? Letztlich geht es immer um Führung. Die Regierungen müssten ihre Hauptenergie darin investieren, unseren Planeten von der Geißel der Armut, dem weiteren Arten- und Biodiversitätsverlust und den schlimmsten Folgen der globalen Erwärmung zu befreien. Es ist erschreckend, dass wir als globale Gesellschaft be­­reitwillig die Saat für unsere eigene Zerstörung säen – der Wissenschaft und aller Beweise zum Trotz, dass wir unser einziges Zuhause in eine unbewohnbare Hölle für Millionen von Menschen verwandeln. Dennoch gibt es Hoffnung: Ich arbeite mit vielen Menschen in internationalen Gremien und lokalen Gemeinschaften zusammen, die alle etwas verändern wollen: Es gibt diese Menschen, das ist das Wichtige! 

Bleiben wir aber kurz bei der Verantwortung von Regierungen, insbesondere der Industrienationen. Denn die ärmere Hälfte der Menschheit produziert nur halb so viel CO2 wie das reichste Prozent, lebt aber oftmals in den Gebieten, die am stärksten durch die Klimafolgen gefährdet sind. Was fordern Sie konkret von den Industrieländern?

Zuallererst natürlich eine klare Emissionsreduzierung und die Einhaltung der Pariser Klimaziele. Die Länder des Globalen Nordens haben sich unter anderem durch ihren ungehemmten Einsatz von Erdöl und Erdgas bereichert. Sie sind immer noch die größten Produzenten und Verbraucher von CO2. Sie allein essen eine riesige Menge Fleisch, viel mehr als jede andere Region der Welt. Sie sind für knapp 20 Prozent der Treibhausgase verantwortlich. Doch um das zu ändern, müssten sich diese Gesellschaften für Lösungen entscheiden, die weitgehend unpopulär sind, und zum Beispiel den Fleischkonsum oder auch die Nutzung von Autos und Flugzeugen stark einschränken. Sie werden es aber wohl nicht tun. Ebenso wenig wie sie ausreichend Geld für notwendige Adaptionsmaßnahmen ausgeben werden. Es sei denn, die Bevölkerung im Globalen Norden spürt die Not am eigenen Leib.

Das tut sie nun immer mehr. Denken wir zum Beispiel an die Flutkatastrophen in Australien, Deutschland und Belgien. Ist das also auf eine traurige Art hilfreich?

Die Überschwemmungen in Australien und im vergangenen Jahr in Europa sind wichtige Warnungen, obwohl es natürlich schlimm ist, dass nun auf der gesamten Welt Menschen bedroht sind. Bei der Flut in Belgien sind 48 Personen ums Leben gekommen, das ist eine hohe Zahl für ein reiches Land. Armut ist übrigens auch dort ein großer Risikofaktor. 

Frau Guha-Sapir steht draußen auf den Stufen vor einer herrschaftlichen Eingangstür.
Foto: Annette Etges

Können Sie den Risikofaktor Armut bei Katastrophen wissenschaftlich belegen?

Von 2000 bis 2019 haben wir mit EM-DAT, unserer internationalen Datenbank, weltweit 7.348 Katastrophenereignisse gezählt. Sie forderten 1,23 Millionen Menschenleben. In Ländern mit hohem Einkommen sind weniger Menschen betroffen gewesen und getötet worden, während Länder mit niedrigem Einkommen hohe Todeszahlen pro Katastrophenereignis hatten. Generell lässt sich sagen: Wenn Sie arm und von einer Katastrophe betroffen sind, werden Sie mit einer wesentlich höheren Wahrscheinlichkeit sterben. Warum ist das so? Armut bedeutet leider immer noch geringere Bildung und weniger Möglichkeiten. Wer reich und gebildet ist, hat meist auch ein Haus mit einem besseren Fundament oder kann seine Kinder in ein Auto packen und in einer anderen Region in ein Hotel einchecken.

Bedeutet eine Verringerung von Armut also zwangs­läufig mehr Sicherheit?

Ja, allerdings mit einem Aber: Das Sinken der Armut kann auch einen Anstieg der Risiken mit sich bringen. Wenn Menschen in Entwicklungsländern ein wenig mehr verdienen, von geringem zu mittlerem Einkommen wechseln, sind sie häufig größeren klimabedingten Gefahren ausgesetzt. Nehmen wir als Beispiel die Erdbebenkatastrophe 2010 in Haiti. Die meisten Menschen, die damals starben, waren nicht die Ärmsten, die in einfachen Holzbehausungen lebten. Deren Häuser fielen zwar in sich zusammen, waren aber so leicht gebaut, dass es die Bewohner nicht zwangsläufig umbrachte. Die reichen Leute wurden auch nicht getötet, weil sie sehr solide Häuser hatten. Die häufigsten Todesopfer gab es bei denjenigen, die gerade etwas aufgestiegen waren und es sich leisten konnten, ihr erstes Haus mit Betonsteinen zu bauen. Oft fehlte es dann aber an Geld für ausreichend Mörtel. Die Konstruktionen haben also nicht gehalten. Bei dem Erdbeben sind darum viele Häuser zusammengebrochen und haben die Bewohner unter ihrer Last begraben. Sie merken auch hier: Die Herausforderung besteht darin, lokale und soziale Gegebenheiten zu erfassen. Wir müssen in dynamischen Szenarien denken. Risiken ändern sich – zum Beispiel durch die Zunahme klimabedingter Hitzewellen.

Ihre Datenbank zeigt, dass extreme Temperaturen von 2000 bis 2019 bereits 13 Prozent aller Todesfälle durch Katastrophen weltweit verursachten. 

Ein Großteil davon ist eben auf Hitzewellen zurückzuführen. Fast alle Todesfälle durch extreme Temperaturen wurden außerdem im Globalen Norden verzeichnet,  allein 88 Prozent in Europa. Studien aus den Niederlanden haben zum Beispiel gezeigt, dass bei starker Hitze insbesondere alte Menschen zu Hause bleiben und ihre Fenster schließen. Sie wollen sich schützen, bringen sich aber so in Gefahr. Der Körper braucht einen Unterschied von zehn Grad zu dem Temperaturhöchstwert am Tag, um sich in der Nacht erholen zu können. Bleiben die Fenster geschlossen, staut sich die Hitze, die Menschen dehydrieren. Das ist lebensgefährlich.

In den USA fordert extreme Hitze im Durchschnitt bereits mehr Todesopfer als Hurrikans und Tornados. In Kalifornien wird darüber diskutiert, Hitzewellen Namen zu geben, um das tödliche Risiko zu unterstreichen. Was halten Sie davon?

Im Gegensatz zu Stürmen, Bränden und Überschwemmungen, die sofortige und sichtbare Zerstörungen verur­sachen, ist die schädliche Auswirkung von Hitze subtiler – auch wenn sie oft tödlicher ist. Hohe Temperaturen sind zwar für alle spürbar, aber viele Menschen sterben allein zu Hause, hinter verschlossenen Türen. Die Gefahr wird häufig unterschätzt. Hitzewellen einen Namen zu geben, ist also eine sehr gute Idee. Es wird Aufmerksamkeit auf sie lenken. Hitzewelle «George». Der Name macht die Bedrohung sofort wahrnehmbarer. Im Marketing ist die Namensgebung eines der effektivsten Mittel, um Aufmerksamkeit auf ein Produkt zu lenken. Warum also nicht von der Privatwirtschaft übernehmen, was für uns alle wichtig ist?

Sie konzentrieren sich darauf, wie wir am besten mit Katastrophen umgehen sollen. Haben Sie dennoch Hoffnung, dass der Klimawandel langfristig abgewendet werden und es auch weniger Katastrophen geben könnte?

Die Klimakrise werden wir vermutlich nicht gänzlich verhindern. Wir können aber mit schnellen und radikalen Klimaschutzmaßnahmen dafür sorgen, dass es nicht noch deutlich schlimmer wird. Dennoch müssen wir mit vielen weiteren Katastrophen rechnen. Ich habe Ihnen ja zum Ende eine gute Nachricht versprochen. Hier ist sie: Es ist vielleicht noch ein langer Weg – aber wir bewegen uns in die richtige Richtung! Die Notwendigkeit, Daten über betroffene Menschen zu sammeln, wird zunehmend erkannt. Das ist ein großer Schritt, auch wenn er ein bisschen langweilig klingt. Okay, Daten. Doch die sind essenziell! Wer an vorderster Front der Klimakrise leben muss, weiß um die Risiken vor Ort. Es ist unsere Aufgabe, aus diesem Wissen der betroffenen Menschen Maßnahmen abzuleiten, diese zu finanzieren und zu etablieren. Wenn wir die Probleme der Gegenwart anpacken und konkrete, auf Regionen abgestimmte Lösungen entwickeln, sind wir deutlich besser für die Zukunft gewappnet. Und können dadurch Millionen Menschenleben retten.

 

Kopfportät von Frau Guha-Sapir, sie schaut milde lächelnd in die Kamera.
Debarati Guha-Sapir

Debarati Guha-Sapir, 1953 in Kalkutta, Indien geboren, ist Professorin an der «School of Public Health» der «Université catholique de Louvain» in Brüssel und Senior Research Fellow an der «Johns Hopkins University» in Baltimore. Die Epidemiologin ist seit 1992 Direktorin des «Centre for Research on the Epidemiology of Disasters» in Brüssel, das internationale Katastrophen- und Konfliktgesundheitsstudien durchführt sowie Forschung, Ausbildung und technisches Fachwissen zu humanitären Notfällen fördert.

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13. Mai 2022 | Energiewende-Magazin