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«Reichtum muss begrenzt werden»

Der Soziologe Sighard Neckel im Gespräch mit Guido Speckmann

Reiche konsumieren viel mehr als andere. Doch es ist weniger ihr Konsum als ihre Verfügungsgewalt über die Produktion, was die Klimakrise verschärft.

Je reicher, desto mehr Emissionen – auf diese Faustformel lässt sich der Zusammenhang zwischen Einkommen und dem Beitrag zum Klimawandel bringen. Die Entscheidungen der CEOs und Manager der größten Industriekonzerne haben dabei einen enormen Einfluss. So hat die kürzlich von Greenpeace in Auftrag gegebene Studie «The Dirty Dozen» gezeigt, dass Europas Ölkonzerne unbeirrt weiter in die Erderwärmung investieren. Shell, BP, Wintershall Dea und Co. nutzten fast 93 Prozent ihrer stetig steigenden Gewinne, um ihr fossiles Geschäft am Laufen zu halten, nur sieben Prozent flossen in Erneuerbare Energien.

Mit dem Begriff «zerstörerischer Reichtum» bringt Sighard Neckel das auf den Punkt. Entsprechend war auch sein programmatischer Aufsatz in der April-Ausgabe der Zeitschrift «Blätter für deutsche und internationale ­Politik» überschrieben. Der Untertitel lautete nicht minder deutlich: «Wie eine globale Verschmutzerelite das Klima ruiniert». Was der Soziologe damit meint, sind die ökologischen Zerstörungen, die aus dem Wachstumszwang der kapitalistischen Produktionsweise resultieren.

Die permanente Steigerung der Güterproduktion, der Profiterwartungen und des Konsums hat ihre Kehrseite in immer höheren Emissionen, die den Klimawandel vorantreiben. Neckel beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Ungleichheit bei den Treibhausgasemissionen, zuvor mit Fragen der sozialen Ungleichheit. Er hat in Stadtteilen von Recklinghausen, Mannheim, Frankfurt am Main und Eberswalde Feldforschungen betrieben, um insbesondere Prekarität und Krisenerfahrungen zu untersuchen. Seit der Finanzkrise von 2008 forscht er zur Finanzindustrie und aktuell zu Superreichen der fossilen Industrie. Das Videogespräch mit dem Energiewende-Magazin führte Sighard Neckel aus seinem Büro an der Universität Hamburg, an der er als Professor für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel lehrt.

 

Herr Neckel, Superreiche können sich inzwischen ins Weltall schießen lassen. Können sie sich auch vor den Folgen der Klimakatastrophe retten?

Superreiche haben auf jeden Fall die Möglichkeit, sich den Folgen des Klimawandels auf eine Weise zu entziehen, wie das kaum einer anderen Bevölkerungsgruppe auf der Welt möglich ist. Das ändert aber nichts daran, dass der Klimawandel letztendlich auch die Vermögenswerte von Wohlhabenden und Superreichen bedroht, weil seine Folgen kaum kontrollierbar und einzugrenzen sind. Gleichwohl müssen Reiche mit sehr viel geringeren Schäden durch die Erderwärmung rechnen als ärmere Bevölkerungsschichten.

Dabei tragen Superreiche viel stärker zur Klima­krise bei. Welche Verantwortung kommt ihnen konkret zu?

Eine ganz zentrale. Die obersten zehn Prozent der globalen Einkommenshierarchie sind für 48 Prozent der Emissionen weltweit verantwortlich – und besitzen zugleich 76 Prozent aller Vermögenswerte, wie der «Climate Inequality Report 2023» zuletzt festgestellt hat, auf den ich meine Forschungen stütze.

Um wie viele Personen handelt es sich hier?

Um rund 800 Millionen.

Das sind viele! Zählt zu ihnen auch halb Deutschland?

Natürlich nicht. Zu den reichsten zehn Prozent der Welt gehören in Deutschland Menschen mit einem Nettoeinkommen von mindestens 90.000 Euro im Jahr, also ab der oberen Mittelschicht aufwärts. Wichtig ist aber auch der Blick auf die vorderen Plätze in der Einkommenshierarchie. Das oberste ein Prozent emittiert 17 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen. Diese 77 Millionen Menschen übertreffen mit durchschnittlich 110 Tonnen CO2-Äquivalenten den ohnehin schon viel zu großen ökologischen Fußabdruck der oberen Mittelschicht um mehr als das 3,5-fache und den globalen Durchschnitt um mehr als das 16-fache.

Die Reichen werden seit Jahrzehnten immer reicher – haben sich auch ihre Emissionen vergrößert?

Ja, die Emissionen der Reichen nehmen weiterhin beständig zu. In den unteren Mittelschichten und in der Arbeiterschaft sind sie hingegen gesunken, insbesondere in der EU. Laut «Climate Inequality Report» erreichen sie die Reduktionsziele des Pariser Klimaabkommens bis 2030 in Pro-Kopf-Emissionen bereits heute. Das einkommensschwächste Drittel liegt teilweise sogar schon darunter.

Kohlenstoffemissionen verteilt auf Einkommensgruppen

Eine Grafik zeigt, wie ungleich der Anteil der Kohlenstoffemissionen innerhalb der Einkommensklassen verteilt ist.
Seit 1990 sind die Emissionen der obersten 1 Prozent (Superreiche) drastisch gestiegen, was auf den Kohlenstoffgehalt ihrer Investitionen und die zunehmenden wirtschaftlichen Ungleichheiten innerhalb der Länder zurückzuführen ist. Stand: 2019 / Quelle: www.wid.world / Grafik: Katrin Schoof

 

Und dennoch will die vorherrschende marktorientierte Klimapolitik diese Schichten durch CO2-Abgaben noch weiter belasten …

Richtig, das hat mit sozialer Gerechtigkeit nichts zu tun – und auch nichts mit Klimagerechtigkeit.

Wenn die unteren Klassen des Globalen Nordens bereits ihren Beitrag leisten, inwiefern macht es dann noch Sinn, vom Globalen Süden und Norden zu sprechen?

In so pauschaler Weise macht das heute keinen Sinn mehr. Laut «Climate Inequality Report» sind zwei Drittel der ungleichen Verteilung aller CO2-Emissionen auf die wachsende Ungleichheit innerhalb von Staaten zurückzuführen und nicht mehr auf die Unterschiede zwischen ganzen Ländern und Kontinenten, wie dies noch vor drei Jahrzehnten der Fall gewesen ist.

Reichtum ist gemeinhin positiv besetzt. Sie sprechen jedoch von «zerstörerischem Reichtum». Was ist damit gemeint?

Von der unablässigen Anhäufung ökonomischen Reichtums gehen heute die größten ökologischen Gefährdungen aus, weil er hauptsächlich dafür verwendet wird, in die Akkumulation von noch mehr Reichtum zu investieren. Die meisten Investitionen erfolgen weiterhin in die fossile Industrie, von der all diese Gefährdungen abgeleitet sind. Zudem geht dieser Reichtum mit einer Lebensführung einher, die teils tausendfach mehr an CO2 emittiert, als dies im globalen Durchschnitt der Fall ist. Superreichtum ist verbunden mit exzessivem Überkonsum, der alle ökologischen Grenzen sprengt, mit einer Hypermobilität, die teilweise absurde Treibhausgasemissionen zur Folge hat, und mit fossilen Investitionen, die enorm schädliche Auswirkungen für das Ökosystem haben.

Gibt es denn keinen guten Reichtum? Ich denke zum Beispiel an den Gründer der kalifornischen Outdoormarke Patagonia, Yvon Chouinard, der Gewinne in die Bekämpfung des Klimawandels investiert. Er äußerte zudem die Hoffnung auf einen sozial gerechteren Kapitalismus. Ist seine Hoffnung trügerisch?

In gewisser Weise ja, wobei ich nicht in Zweifel ziehen will, dass Chouinard mit seinem Schritt subjektiv ehrliche Absichten zur Verbesserung der Welt verfolgen mag. Das Phänomen des philanthropischen Kapitalismus, mit dem wir es hier zu tun haben, finde ich aber dennoch zutiefst problematisch. Mit der Wohltätigkeit des Patagonia-Gründers oder anderer Superreicher wie Bill Gates oder Warren Buffett ist das verbunden, was ich die «Refeudalisierung des Kapitalismus» nenne: Wohlfahrt wird gewissermaßen privat gesteuert und über Stiftungen organisiert, die dem öffentlichen Einfluss entzogen sind. Das gibt denjenigen, die dank ihrer Kapitalmacht ohnehin schon großen Einfluss auf die Geschicke der Welt haben, noch zusätzliche Macht.

Refeudalisierung – das müssen Sie konkreter erklären! Mir kommt hier gleich das Mittelalter in den Sinn …

Nein, eine Rückkehr zum Feudalismus ist damit nicht gemeint. Vielmehr geht es um das Ergebnis sehr moderner Entwicklungen. Denken wir an die Digitalisierung, die zu einer einmaligen Machtkonzentration in den Händen von Tech-Konzernen geführt hat, die wirtschaftliche Macht mit politischem Einfluss in einer Weise verbinden, wie das in vorbürgerlichen Zeiten bei der Aristokratie der Fall gewesen ist. Von demokratischen Instanzen ist dieser Einfluss kaum mehr zu kontrollieren. Ein Symbol dafür sind die berühmten Bilder, auf denen Facebook-Gründer Mark Zuckerberg von US-Präsidenten und anderen politischen Größen empfangen wird, als ob er ein Staatsmann wäre. Oder denken wir an Elon Musk, der mit seinem Raumfahrtunternehmen SpaceX anstrebt, den Weltraum zu kontrollieren.

Warum ist dieser Machtzuwachs schlecht für den Klimaschutz?

Weil er Klimaschutz zu einer Angelegenheit reicher Privatleute macht, auf deren Gutwilligkeit wir hoffen müssen. Das ist für unsere Erde zu wenig.

Wenn Reiche etwas Gutes für die Welt tun wollen, aber Stiftungsgründungen und Privatprojekte nicht die Lösung sind, was könnten sie stattdessen tun?

Sich beispielsweise für eine höhere Besteuerung ihres Reichtums einsetzen. Das ist ja tatsächlich eine – wenn auch recht kleine – Bewegung im Milieu des Reichtums selbst. In den Vereinigten Staaten wird das im Rahmen der Initiative «Tax me now» diskutiert. Im Falle einer höheren Besteuerung würden Mittel generiert, die öffentlich legitimiert und im allgemeinen Interesse in Investitionen in den Klimaschutz oder in die Verbesserung der Infrastruktur fließen könnten.

 

Ein Mann mit grauen Haaren, Brille und leichtem Stoppelbart posiert lächelnd auf einer Bank im Freiem.
Sighard Neckel auf dem Campus der Universität Hamburg Foto: Kathrin Spirk

 

Thematisiert wird der krasse Reichtum der Emissions-Elite durchaus in letzter Zeit. Die ARD-Doku «Das Klima und die Reichen» ist ein Beispiel dafür. Sie kritisieren den dort gewählten Fokus auf Hypermobilität und Überkonsum jedoch. Warum?

Nun, es ist nicht falsch, den Überkonsum der Superreichen zu kritisieren. Aber der weitaus größte Teil ihrer Emissionen kommt nicht durch ihre Yachten, Villen und Privatjets zustande, sondern durch ihre fossilen Investments. Damit treiben sie den Klimawandel weit stärker voran. Mir gefällt der Fokus auf den Konsum auch deswegen nicht, weil wir in der Klimadebatte insgesamt dazu neigen, die ökologische Zerstörung allein von dieser Seite her zu betrachten – vom Konsum der Durchschnittsbürger über den der oberen Mittelklasse bis hin zu jenem der Superreichen. Auch hieran ist nicht alles falsch, denn natürlich sollte man bei seinen Konsumentscheidungen die ökologischen Folgen bedenken. Entscheidend für die Klimakrise ist aber vor allem die Produktion klimaschädlicher Güter auf klimaschädliche Weise. Der beste Konsumverzicht ist, solche Güter erst gar nicht herzustellen.

Können Sie uns an einem konkreten Beispiel erläutern, welche Treibhausgasemissionen die Investitionsentscheidungen von Superreichen verursachen?

Rex Tillerson, der langjährige CEO des Erdölkonzerns ExxonMobil, ist ein gutes Beispiel: Nach Angaben des Unternehmens, dessen historische Verantwortung für Emissionen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht, hat ExxonMobil 2015 122 Millionen Tonnen CO2 direkt emittiert. Teilt man dies durch den Marktwert von Tillersons Aktienbesitz, kommt man auf ein Emissionsvolumen von über 52.000 Tonnen Kohlendioxid pro Jahr, das direkt mit seinem Investment zusammenhängt. Das entspricht in etwa dem CO2-Ausstoß eines Autos, das 430 Mal zum Mond hin- und zurückfahren würde.

Ist dieser Fokus auf die Reichen nicht kontraproduktiv, wenn auch die oberen Mittelklassen einen viel zu großen ökologischen Fußabdruck haben und zu viel emittieren? In Deutschland liegt der Pro-Kopf-Ausstoß bei rund zehn Tonnen Kohlendioxid, es müssten aber zwei Tonnen sein, um innerhalb der ökolo­gischen Grenzen zu bleiben.

Kein Zweifel: Die Emissionen der oberen Mittelklassen in Nordamerika und Europa, aber auch in Ostasien sind viel zu hoch, insbesondere die der obersten zehn Prozent. Aber selbst bei diesen Top Ten lassen sich die Emissionen nicht allein auf einen konsumfreudigen Lebensstil zurückführen. Vielmehr sind auch diese Einkommensgruppen an fossile Infrastrukturen angeschlossen. Im Alltag entstehen so Emissionen, die wenig beeinflussbar sind, oft sogar entgegen der erklärten Absicht, die eigenen Emissionen möglichst zu reduzieren. Auch besteht das Vermögen der oberen Mittelklassen im Wesentlichen aus Immobilien, die zu einem großen Teil selbst genutzt werden. Anlagekapital, das in große Aktienpakete verschnürt ist, mit denen man Unternehmenskontrolle ausüben kann, ist hier kaum vorzufinden – wohl aber bei den obersten ein bis drei Prozent der Einkommenshierarchie. Hier werden die unternehmerischen Entscheidungen getroffen.

Das Cover des Climate Inequality Report zeigt einen zerschnittenen Kreis, links in Orange, rechts in Blau.

Der «Climate Inequality Report»

Der jährlich erscheinende Bericht untersucht Ungleichheiten im Kontext des Klimawandels. Lag der Fokus diesbezüglich lange bei Vergleichen auf staatlicher Ebene, so betrachten die Autoren mittlerweile auch verstärkt Unterschiede zwischen Arm und Reich: Demnach sind derzeit über 780 Millionen Menschen einer kombinierten Gefahr aus Armut und schweren Überschwemmungen ausgesetzt – vor allem in Entwicklungsländern.

Wie kann erreicht werden, dass die Reichen die Umwelt nicht weiter schädigen? Wie kann «zerstörerischer Reichtum» begrenzt werden?

Zum einen muss Reichtum als solcher seine Grenzen haben. Wir sind gut beraten, die seit mehr als 30 Jahren anhaltende Politik der steuerlichen Entlastung der Vermögenden und Reichen umzukehren, damit ein viel größerer Teil dieses Reichtums in öffentliche Infrastruktur, Erneuerbare Energien und Maßnahmen zur Klimafolgenanpassung investiert werden kann. Wir sollten uns vor Augen halten, dass vor der Regierungszeit von Ronald Reagan die Spitzensteuersätze selbst in den USA bei über 70 Prozent lagen – heute würde das als nackter Sozialismus gebrandmarkt werden. Auch in der Bundesrepublik unter Helmut Kohl lagen die Steuersätze weit höher als heute, bei 56 Prozent. Berechnungen des französischen Ökonomen Thomas Piketty zeigen: Allein eine moderate Erhöhung der Vermögenssteuer für Multimillionäre würde genau die zwei Prozent des globalen Jahreseinkommens erbringen, die man alljährlich für die zusätzlichen Investitionen benötigt, um den Klimawandel zumindest abschwächen zu können.

Es genügt aber doch noch nicht, wenn ExxonMobil und Shell höhere Steuern zahlen!

Nein, zusätzlich braucht es ordnungspolitische Eingriffe in Investitionsentscheidungen, damit klare Obergrenzen bei Emissionen eingehalten werden. Hierzu sind wir gesetzlich und völkerrechtlich auch verpflichtet – in Deutschland durch das Klimaschutzgesetz und international durch das Pariser Klimaabkommen.

In Ihrem Fachartikel «Zerstörerischer Reichtum» ist von Umverteilung die Rede. Muss es nicht auch um eine Reduzierung des Reichtums gehen? Schließlich führt ja nur weniger Wirtschaftswachstum zu weniger Ressourcenverbrauch und Emissionen.

Wenn ich von Umverteilung spreche, so bedeutet das ja eine Verringerung des Reichtums, weil dann große Vermögensanteile in die öffentliche Hand überführt werden, um Investitionen in die Dekarbonisierung zu finanzieren und den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft auf sozial verträgliche Weise zu gestalten.

Die Ungleichheiten bei der Klimaschädigung

In einem Koordinatensystem sind zwei Grafen mit entgegengesetztem Verlauf abgebildet – beide kreuzen sich in der Mitte.
Die Entwicklung innerhalb von 30 Jahren ist auffällig: Klaffte die Schere der Ungleichheiten bei der Klimaschädigung 1990 noch zwischen Ländern, geht sie seit 2008 zwischen Arm und Reich innerhalb von Ländern auf. Quelle: Climate Inequality Report 2023

 

Was halten Sie von der Wachstumskritik, also der Idee, durch eine Verringerung von Produktion und Konsum insbesondere im Globalen Norden der ökologischen Krise beizukommen?

Es ist sicher richtig, dass wir bei stark ressourcenintensiven und emissionshaltigen Gütern auch einen absoluten Rückgang brauchen. Zugleich benötigen wir aber ein deutliches Wachstum bei klimaneutralen Technologien und gewaltige Investitionen in die Nachhaltigkeit der Industrie, auf die wir gar nicht verzichten können. Mir ist die generelle Wachstumskritik noch zu stark an den Wachstumsgedanken selbst gekoppelt. So wie der Wirtschaftsliberalismus meint, dass Wachstumsgrößen die einzig richtige Leitorientierung für das Wirtschaften sind, so wird auf der anderen Seite behauptet, dass nur ein absoluter Rückgang des Wachstums der alleinige Ausweg aus der ökologischen Krise sei. Global gesehen, aber auch, was die unteren Einkommensklassen in wohlhabenden Gesellschaften betrifft, kann man nicht generell einen Abschied vom Wachstum einfordern. Auch haben wir nicht das Recht, ärmere Länder dazu zu drängen, auf Wohlstandssteigerungen und wirtschaftliches Wachstum zu verzichten. Als Industrieland und Technologienation müssen wir vielmehr dafür sorgen, dass diese Länder für ihre Wohlstandssteigerung nicht denselben fossilen Weg gehen müssen, den wir selbst zum Schaden aller genommen haben.

Brauchen wir ein neues Verständnis von Reichtum und Wohlstand, das sich nicht über Luxusgüter definiert, sondern über frei verfügbare Zeit und Muße?

Ja, schon Karl Marx war ja bekanntlich der Ansicht, dass der menschliche Reichtum im Reichtum menschlicher Beziehungen besteht. Die Fixierung von Reichtum auf reine Gütermengen ist eine Fehlentwicklung des modernen Kapitalismus – das wird von immer mehr Menschen begriffen. Reichtum hat auch etwas mit Erfüllung in sozialen Beziehungen, mit der Verfügung über Zeit und persönliche Entwicklungschancen und mit den Erfahrungsmöglichkeiten in einer möglichst unbeschädigten Natur zu tun. Es ist eine uralte liberalistische Idee, Freiheit vor allem als unbegrenzte Verfügungsmacht über materiellen Überfluss zu verstehen. Dieses verengte Freiheitsverständnis hat uns in die heutige ökologische Krise geführt, in der uns der materielle Überfluss mindestens so viele Probleme einträgt, wie er vermeintlich löst.

Warum gibt es so wenig Widerstand gegen die ­krasse Vermögens- und Kohlenstoff-Ungleichheit?

Die öffentliche Bewertung von Reichtum ist häufig paradox. Auf der einen Seite finden wir in allen Bevölkerungsumfragen vor allem nach der Finanzkrise von 2008 eine weitverbreitete Kritik am Reichtum – an der Art und Weise, wie er zustande kommt und wie ungerecht er verteilt ist. Mit Blick auf die Klimakrise sind heute teilweise bis zu 80 Prozent der Befragten der Auffassung, dass Reiche viel stärker zur Verantwortung gezogen werden müssen. Auf der anderen Seite erhält eine Politik, die auf entschlossene Umverteilung setzt, bei Wahlen selten große Unterstützung. In den Sozialwissenschaften nennen wir das den «Solidarisierungseffekt mit den Reichen».

Was heißt das genau?

Das bedeutet, dass sich viele Bevölkerungsgruppen auch weit unterhalb der wohlhabenden Mittelschichten mit großen Vermögen identifizieren, weil sie an ihr eigenes Gespartes denken und meinen, dass sie von einer Umverteilungspolitik selbst betroffen wären. Es gibt aber auch deshalb eine weitverbreitete Identifikation mit dem Reichtum, weil man in ihm ein gewisses Ideal der eigenen Lebensziele sieht. Dieser Solidarisierungseffekt drückt sich nicht zuletzt auch darin aus, dass sich hierzulande weit mehr Menschen der «Mittelschicht» zuordnen, als es sozialstatistisch tatsächlich der Fall ist.

Im Sommer 2021 ließ sich der damalige Finanzminister Olaf Scholz feiern, weil die G20-Länder einen Beschluss zur globalen Mindestbesteuerung gefasst haben. Bis Ende dieses Jahres muss dieser Beschluss in nationales Recht umgesetzt werden. Ist das der Anfang vom Ende des «zerstörerischen Reichtums»?

Das wird man kaum sagen können. Die beschlossene Mindestbesteuerung von Unternehmen ist mit 15 Prozent sehr niedrig. Oberhalb dieser niedrigen Marge wird der globale Wettlauf um die geringste Unternehmensbesteuerung weitergehen – und auch die Steuerschlupf­löcher überall auf der Welt werden weiterhin existieren. Es braucht weit wirksamere Maßnahmen für eine gerechte und klimafreundliche Welt.

 

Titelfoto: Saskia Uppenkamp

Porträtaufnahme: Ein Mann mit kurzen, grauen Haaren, Brille und Stoppelbart trägt ein blaues Jackett.

Sighard Neckel, geboren 1956 in Gifhorn, studierte Soziologie, Rechtswissenschaften und Philosophie an der Universität Bielefeld und an der Freien Universität Berlin. Nach Stationen als Professor für Soziologie unter anderem in Gießen, Wien und Frankfurt am Main lehrt er seit 2016 an der Universität Hamburg. Dort ist er seit 2019 Sprecher der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe «Zukünfte der Nachhaltigkeit». Seine Arbeitsschwerpunkte sind soziale Ungleichheit, Wirtschafts- und Finanzsoziologie, Kapitalismusanalyse und Konflikte um Nachhaltigkeit.

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03. November 2023 | Energiewende-Magazin